Macabros 023: Gefangen im Totenmaar
nicht
beeindrucken. Die anderen, die es sehen müssen und denen wir
entkommen wollen, werden viel Schlimmeres erleben.«
Er hoffte, daß sein Geist noch die Kraft hatte, Marina
Sermaths zu erreichen, und er nicht durch andere Gedanken und
Überlegungen abgelenkt wurde.
Der Totenschädel, der durch die Einwirkung der Maske
entstand, war kein schöner Anblick. Er lebte wirklich, und in
den tiefliegenden, dunklen Augenhöhlen glomm ein
rätselhafter, winziger Punkt, ein Licht, das eiskalt war.
Dem Inder blieb keine Zeit, die Wirkung seines unheimlichen, von
der Maske ausgehenden Aussehens, auf das junge Mädchen zu
registrieren.
Ein Ruck ging durch seinen Körper.
Im gleichen Augenblick rutschte er an dem Lichtgespinst herab, als
hätte ihm jemand einen Stoß versetzt.
Geistesgegenwärtig stieß er beide Arme nach vorn, nahm
es als ganz selbstverständlich hin, daß er sich bewegen
konnte, und nutzte die gewonnene Freiheit, dementsprechend zu
reagieren.
Er griff ins Leere.
Er konnte sich nicht festhalten. Wie Nebelstreifen lösten
sich die armdicken Taue aus Licht, sobald er sie berührte.
Sein Sturz, vom oberen Ende der dämonischen Zeitfalle,
brachte einiges Durcheinander.
Menschen, die wie Wachs- oder Schaufensterpuppen in den Maschen
hingen, die er berührte, kippten in Schräglage, ohne jedoch
selbst ihre Freiheit zu gewinnen.
Für ihn war die Starre und der Aufenthalt im Netz der
Zeitlosigkeit zu einer Rutschpartie in die Tiefe geworden.
Er überschlug sich förmlich und konnte nicht verhindern,
daß er immer schneller, schwer wie ein Stein, in die Tiefe
raste.
Das Netz, schätzungsweise fünf- bis sechshundert Meter
hoch und auch ebenso breit, konnte ihm nun, da er die Maske trug, zum
Verhängnis werden.
Er würde in der Tiefe zerschmettern. Ebenso hätte er
sich von einem Hochhaus stürzen können!
Er raste genau auf den Ozeanriesen zu, der halbschräg in dem
Gespinst aus festem Licht hing.
Die Aufbauten, der Schornstein des Dampfers, die Taue,
blitzschnell kam er dem allem näher.
Wild griff er um sich. Lichtfäden zerrissen, ohne einen Laut
von sich zu geben.
Mahay gab sich einen Ruck. Er mußte weg von dieser ihn
gefährdenden Stelle.
Nur Zentimeterweise – so kam es ihm vor –
veränderte er seine Richtung.
Ein Mast… Von einem Segelboot…
Ein weißes Segel. Er flog genau mitten durch. Der Stoff
zerriß in seiner ganzen Breite, aber sein Fall wurde merklich
gebremst.
Das Deck des Dampfers! Von der Seite her nahm er noch die
Bullaugen wahr und hoffte, an der Seite des Schiffsriesen entlang
zugleiten. Aber so weit kam er nicht.
Er rollte sich zusammen, zog die Beine an und versuchte wenigstens
so günstig wie möglich aufzukommen.
Ein Schlag! Dumpf dröhnte das Geräusch in seinen Ohren,
als hätte jemand einen Gong betätigt.
Ein stechender Schmerz ging durch seine Brust. Er atmete tief
durch. Das Deck war spiegelglatt. Weiter ging es wie auf einer
Rutschbahn.
Ein großes, quadratisches Loch zeigte den Einstieg zum Deck
tiefer. Hölzerne Treppen. Die rollte er nach unten. Das Holz
ächzte unter seinem Gewicht.
Schräg blieb er vor der letzten Stufe liegen und glaubte,
sich alle Knochen im Leib gebrochen zu haben.
Aber er konnte denken, fühlen und spürte bewußt
die Schmerzen und freute sich darüber.
Er drehte den Kopf und überblickte den Raum, der eher als
Saal zu bezeichnen war.
Ein festlich geschmückter Saal, die Messe der »Tina
Mualono«, wie das Schiff hieß, dessen Name er am Bug
gelesen hatte.
Mindestens hundert Menschen umstanden ihn, und feuchtschimmernde
Augen blickten ihm entgegen.
Er glaubte sich in eine andere Zeit versetzt. Die Kleidung, der
Ausdruck der Gesichter – das alles hätte er in einem Museum
erwartet.
Diese Menschen hier waren wie konserviert. Die Zeit war von einem
bestimmten Atemzug an für sie stehengeblieben.
»Wie im Märchen!« kam es ihm in den Sinn.
Unwillkürlich mußte er daran denken. Ein böser Fluch
hatte stattgefunden, und die unschuldigen Opfer waren während
ihrer Handlungen wie unter einem Eishauch erstarrt.
Die Menschen standen in Gruppen beisammen, in Reihen an der langen
Tafel, auf der erlesene Kostbarkeiten ausgebreitet lagen. Funkelnder
Wein in Gläsern und Flaschen.
Die Damen in großer Abendgarderobe, die Männer im
Smoking. Eine illustre Gesellschaft war hier beisammen gewesen, und
die Starre hatte sie überrascht.
Rani Mahay schraubte sich langsam in die Höhe. Das ging nicht
ganz ohne Schmerzen ab. Er hatte sich
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