Macabros 030: Tempel der Versteinerten
hier selbst begegnen
konnte!
Aber auch eine zweite Möglichkeit bestand. Seit seiner ersten
Begegnung mit Al Nafuur verfügte er über die Gabe der
Exteriorsation oder Bilokation, jene Fähigkeit, an zwei Orten
gleichzeitig sein zu können. Björn konnte seit geraumer
Zeit seinen Doppelgänger ausscheiden. Das konnte bewußt,
aber auch unbewußt geschehen. Während er hier durch die
rätselhafte Welt streifte, hatte er manches über sein Ich
und seine Gaben vergessen. Konnte es nicht sein, daß er
während der Zeit seiner Gedächtnislücke unbewußt
mit seinem zweiten Ich an einem anderen Ort war, daß er Taten
vollbracht und gekämpft hatte, und daß er sich nur nicht
mehr daran erinnerte? Auch diese Möglichkeit mußte er in
Betracht ziehen.
»Daß ich dich getroffen habe, Kaphoon, macht mich
glücklich – nun weiß ich, daß Xantilon noch
eine Chance hat, daß der Gott, den die Alten verehrten, nicht
tot ist, daß der Begriff der ›Tote Gott‹ –
eigentlich falsch ist…«
Hellmark wollte schon etwas sagen, als Hasard Kolon unvermittelt
fortfuhr.
»Bestatte meine Leiche unten zwischen den Klippen, Kaphoon
– beschwere sie mit Steinen…«
Björn konnte die Worte kaum verstehen.
Dem jungen tapferen Krieger war nicht mehr zu helfen. Es
kündigte sich wieder ein Schwächeanfall an. Oder war es
schon der Zustand der Agonie, in den Hasard verfiel?
»Hasard?!« rief Hellmark.
»Ja, Kaphoon…«
Der junge Mann zuckte noch mal zusammen, als Hellmark ihn
zurückrief.
»Die Göttin hat acht Arme, du aber hast mir nur von
sieben Armen berichtet. Welche Bedeutung hat der achte Arm?«
Hasard Kolon antwortete nicht mehr darauf. In diesem Augenblick
setzte sein Atem aus.
*
Von der Begegnung mit Hasard und den Gesprächen mit ihm hatte
Pepe nichts bemerkt. Der Junge schlief fest, obwohl es noch nicht mal
richtig Abend war.
Schweigend und leise hob Björn den Toten auf und legte ihn
über Yümahos Rücken. Dann machte er kehrt und lief den
Felsenpfad nach unten. Wie es Hasards Wunsch gewesen war, versenkte
er die Leiche, eingeschlagen in zusammengelegtes Segeltuch, von dem
er einen Vorrat mitgenommen hatte, zwischen den Klippen. Er watete
bis zu den Knien ins Wasser, suchte dann zwei schwere Felssteine und
beschwerte die Leiche damit. Einen Moment blieb er gedankenversunken
am schroffen Ufer stehen, atmete tief durch, und seine Augen gingen
in eine unbestimmte Ferne. Er versuchte, das blaue Meer zu erkennen
und die nahe Küste Xantilons zu entdecken. Aber die schummrige
Dunstglocke war mit seinen Blicken nicht zu durchbohren.
Als er mit Yümaho den Weg nach oben lief, wußte er
immer noch, daß er Hellmark war. Aber dann kam das Vergessen
wieder. Wie ein dunkler Vorhang senkte es sich über sein
Bewußtsein und deckte alles zu was er eben noch wußte,
was er in seiner ganzen Tragweite begriffen zu haben glaubte.
Jetzt war er wieder nur Kaphoon, und als solcher daran
interessiert, den Dämonen zu Leibe zu rücken, den
Unschuldigen und in Not Geratenen zu helfen und herauszufinden, was
es mit dieser rätselhaften Insel auf sich hatte. Er wollte die
Herausforderung Aii-Ko’on-Taks annehmen. Nicht jeden Tag erhielt
man Gelegenheit zu erfahren, was die Zukunft brachte und wie die
Dinge, welche die Welt bewegten, wirklich zusammenhingen.
Er erreichte das dschungelartige Plateau und sah die Stelle, wo
Pepe lag – gelegen hatte!
*
Was sie erlebt hatte, kam ihr vor wie ein Traum, aber sie
wußte, daß es keiner war.
Clea Malcolm saß in verzerrter Stellung hinter dem Steuer
des Austin.
Durch die Windschutzscheibe nahm sie ihre Umwelt wahr wie hinter
einem Nebelvorhang. Die Alleebäume wurden zu Schemen, ebenso die
Straßen, durch die sie später kam, die Menschen, die auf
den Bürgersteigen liefen oder irgendwo beisammenstanden und sich
unterhielten. Sie nahm alles nur mit halbem Bewußtsein wahr,
als ob sie schliefe.
Ich muß nach London, hämmerten die Gedanken in ihrem
Hirn.
Aber London war weit. Zwischendurch kam sie durch kleine
Ortschaften, dann durch Vororte. Sie wagte nicht, den Wagen am
Straßenrand abzustellen und zu einer Telefonzelle zu eilen und
ihren Vorgesetzten fernmündlich von den Vorfällen zu
unterrichten.
Sie wollte ihm dabei gegenüberstehen und sehen, wie er
reagierte. Und er wiederum sollte sie sehen. Diese
Gefühllosigkeit in Armen und Händen, in den Beinen und
einer Körperhälfte, dieses Gefühl, langsam abzusterben
und zu Stein zu werden – auch das mußte sie ihm
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