Macabros 055: Mysterion, der Seelenfänger
bewußt: die Wogen entführten ihn! Und ihr Ziel war das
tiefschwarze Loch, das ihm am Fuß einer der Ruinen wie ein
tierisches Maul entgegengähnte…
*
Christine Olivier schrie wie am Spieß.
Sie war erschüttert über den Vorfall. So etwas hatte sie
noch nie erlebt.
Der fremde Sog hatte Jacques mit sich gezerrt und ihn aus ihrer
Sichtweite entführt. Christine hätte nicht zu sagen
vermocht wohin.
Anfangs war sie willig zu der kleinen Brücke der Jacht
zurückgerannt, um den Motor anzuwerfen. Sie wollte ihrem Freund
nachfahren und ihm bei einem zweiten Versuch das Leben retten. Aber
es kam anders.
Plötzlich hatte das Wasser zu brodeln begonnen. Es war ein
völlig anderes Ereignis als jenes, das sie bei ihrem Freund
beobachtet hatte. Und doch waren sie einander ähnlich.
Sie hatte sich vom Motor abgewandt und schnell die Strickleiter
eingezogen. Sie wußte nicht, wie sie auf den Gedanken gekommen
war. Aber sie hatte Angst, daß man das Schiff entern
könnte.
Und dann hatte sie begonnen wie am Spieß zu schreien.
Schreckerfüllt sah Christine Olivier auf das Heer von
Fischen, das sich um die Jacht versammelte. Dieser Anblick allein
brachte sie nicht zum Schreien, aber sie gewann den Eindruck,
daß eine Drohung von ihnen ausging.
Und die junge Frau täuschte sich nicht!
Ihr Schrei hing noch in der Luft, als sich die Bewegung unter den
zappelnden und zuckenden Leibern verstärkte. Zwischen den
kleineren tauchten größere Körper auf, und mit
Entsetzen mußte Christine feststellen, daß sich eine
Unmenge von Raubfischen zu den harmloseren Arten gesellte.
Sie wirbelte herum und rannte zur Brücke. Bebend vor Angst
und Ungeduld betätigte sie die Schalter und Hebel.
Gebannt erwartete sie das Rumoren der Schiffsschraube. Ihr
einziges Ziel war jetzt nur noch, diesem Grauen zu entfliehen.
Endlich spürte sie das gewohnte Vibrieren und schob den
Fahrthebel nach vorn. Doch nichts passierte, das Schiff verharrte an
der Stelle.
Christine fuhr sich durchs Haar. Ihre Finger waren feucht von dem
Schweiß, der in Rinnsalen von ihrer Stirn tropfte.
Wieder ließ sie den Motor aufheulen und hoffte, daß
die Jacht Fahrt aufnahm. Das schien auch der Fall zu sein, doch dann
ging ein Schütteln durch den Bootsleib, und das
Motorgeräusch erstarb.
›Um Gottes willen!‹ durchfuhr es die sich
ängstigende Französin. ›Was soll ich nur
tun?‹
Das Bild des Funkgerätes tauchte mit einem Mal in ihren
Gedanken auf. Mit zwei Sprüngen war sie am Pult und nahm die
Einstellung vor. Sie mußte die Küstenwache erreichen. Sie
würde ihr bestimmt helfen können.
Während sie mit fliegenden Fingern an dem Gerät
hantierte, beschlich sie ein sonderbares Gefühl. Es war so
vollkommen anders als das, das in ihr eine solche Panik entfacht
hatte. Es vermittelte ihr eine Wahrnehmung, die weit akuter
war…
Sie drehte sich um und blieb wie gebannt hocken.
Eine Krake!
Das Tier hatte sich bereits zur Hälfte über die Reling
der kleinen Jacht gezogen. Es war ein großes Exemplar von
immenser Kraft. Suchend fuhren die Tentakel durch die Luft und
blieben dann in Richtung der Französin liegen. Sie hörte
das Schmatzen der Saugnäpfe, als sich das Tier
näherzog.
Christine tat unwillkürlich das einzig Richtige in dieser
Situation. Sie beendete die Einstellungen am Funkgerät und nahm
das Mikrofon auf.
»Hier spricht Christine Olivier von Bord der
›Kormoran‹!« sprach sie hinein. »Ich befinde mich
in einer Notsituation. Können Sie mich aufnehmen?«
Sie nahm den Finger vom Kontakt und erwartete eine Antwort. Aus
den Augenwinkeln beobachtete sie den Kraken, der sich langsam aber
stetig näherte. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis das
Untier sie erreicht hatte.
Sie hielt die Stille im Äther nicht länger aus.
»Hier spricht Christine Olivier!« sagte sie erneut.
»Ich brauche dringend Hilfe! Kann mich jemand aufnehmen? Ich
brauche Hilfe, sonst werde ich sterben!«
Das Schweigen währte diesmal nur Wenige Sekunden. Die junge
Frau hatte kaum ausgesprochen, da erscholl aus dem Lautsprecher eine
sonore Stimme.
»Hier ist Lars Ghomery, Kapitän der
›Chetfield‹. Sie kommen klar und deutlich bei mir rein,
müssen demnach also in meiner Nähe sein. Kann ich Ihnen
irgendwie helfen?«
»Kapitän!« rief Christine. »Kommen Sie so
schnell Sie können, hier ist der Teufel los! Meine Position
ist…«
Aufschreiend zuckte die Französin vom Mikrofon zurück.
Während es scheppernd auf die Planken flog, wischte sie
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