Macabros 087: Myriadus, der Tausendfaltige
von
Polizisten, und man hätte uns wohl nicht erlaubt, diese
menschengefährdende Bucht aufzusuchen.«
»An jedem Gerücht ist meistens ein Körnchen
Wahrheit«, murmelte Rani Mahay. »Es war doch auch die Rede
von einem Schwert, nicht wahr? Haben Sie auch davon
gehört?«
»Ja«, antwortete der Mann. »Auch eine Zeitungsente.
Was soll das eigentlich? Vielleicht gibt’s in der Zwischenzeit
einige Zeitgenossen, die der Meinung sind, daß eine große
unsichtbare Hand ein Schwert geführt und damit das kleine Boot
kurz und klein geschlagen hat.«
So ganz sicher – diese Meinung gewann Rani Mahay – aber
war sich das Paar offenbar nicht.
Aus Neugier waren sie gekommen. Wenn die Sache in den
nächsten Tagen noch journalistisch hochgespielt wurde,
würde es hier am Strand vor Menschen wimmeln. Vielleicht lag
dies ganz und gar im Sinn einiger Zeitgenossen. Wie jedes Jahr
pünktlich zur Sommerzeit die Berichte um das legendäre Loch
Ness-Monster auftauchten, wie in lauen Sommernächten an einsamen
Stränden und auf abgelegenen Feldern angeblich UFOS landeten, so
konnte man auch dieser Gegend hier etwas andichten, um Leute
anzulocken. Die Wirte und Hoteliers, die noch Kapazitäten frei
hatten – die Saison fing erst an –, würden sich die
Hände reiben.
Rani blickte zu den mächtigen Felsen im Meer, die langsam vom
Schleier der Dunkelheit umhüllt wurden.
»Vielleicht ist der Unfall dort drüben passiert«,
sagte er. Der Gedanke kam ihm plötzlich. »Strudel zwischen
den Felsen könnten das kleine Boot wie eine Nußschale
gegen die Wände geworfen haben«, sprach Rani seine
Vermutung aus. »Die Reste des Bootes wurden dann an Land
geschwemmt.«
»Nach den Resten suchen wir«, erklärte die
hübsche Frau mit dem langen Haar. »Bisher wurde nur ein
Teil des ehemaligen Ruderbootes sichergestellt, vielleicht findet
sich noch mehr.«
Zur Linken Ranis erhob sich groß und mächtig die dunkle
Silhouette des Felsens von Gibraltar.
Der berühmte ›Affenfelsen‹ wurde mehr und mehr von
der zunehmenden Dunkelheit geschluckt.
Gluckernd brachen sich die Wellen zwischen den Steinen im
Wasser.
»Ah, da ist ja etwas!« Der Franzose bückte sich
plötzlich. Er fischte ein mehrfach gesplittertes Brett aus dem
Wasser, das eindeutig Rest einer Bootswand war. »Dann hat sich
der Weg hierher schließlich doch gelohnt.«
Aus dem kurzen Gespräch, das Rani mit dem Pärchen
inzwischen geführt hatte, war zu entnehmen gewesen, daß
die beiden eine Schwäche für ausgefallene Souvenirs hatten.
Dinge, die Schlagzeilen machten, interessierten sie, und sie
versuchten unter allen Umständen etwas zu erhaschen, um ein
Erinnerungsstück an dieses oder jenes Ereignis zu besitzen.
Es gab Leute mit den verrücktesten Hobbys.
»Ich glaube«, sagte Rani plötzlich, kaum daß
der andere geendet hatte, »daß es noch einen anderen Grund
gibt, weshalb der Weg hierher sich gelohnt hat. Sehen Sie doch mal
nach vorn!«
Der Angesprochene hob den Blick. Seine Lippen öffneten sich,
doch kein Laut kam aus seinem Mund.
Dafür schrie seine Frau leise auf.
»Jean… aber das… gibt es doch nicht!«
Sie sah es auch.
Auf dem Wasser vor ihnen – zwischen Strand und den Felsen der
kleinen Insel – stand eine Gestalt.
Sie schwebte nur wenige Zentimeter über dem Wasser. Es
handelte sich um eine Frau, deren langes Blondhaar im Wind die
Schultern und Brüste streifte.
Schlank und schön stand die Fremde dort und winkte ihnen
zu.
Sie trug nichts auf dem Leib.
*
Der Kopf rollte wie eine Kugel über die Schreibtischplatte
und blieb am vordersten Rand wie durch Zauberei liegen.
Björn Hellmark stand da wie gelähmt.
Er starrte auf den Kopflosen im Stuhl.
Er konnte in den Leib sehen wie in eine offene Röhre. Das war
nur eine Hülle? Und nichts drin?
Der blonde Mann atmete tief durch, näherte sich dem Toten und
berührte dessen Hände. Sie waren kalt und hart wie
Porzellan.
Hellmark hob den Kopf auf. Er fühlte sich leicht an wie eine
Feder.
Nein – das war kein echter Kopf! Der Tote – ebenfalls
eine Nachbildung.
Aber wer hatte das getan? Und warum? Wer trieb hier makabren
Scherz mit ihm?
Er setzte den Kopf wieder auf die Schultern der Puppe und fragte
sich vergebens nach dem Sinn dieser Demonstration.
»Hilfe, helfen Sie mir!« hörte er das Krächzen
einer Männerstimme. »Tun Sie doch etwas für
mich.«
Hellmark, der schon viele unheimliche Begegnungen erlebt hatte,
begann plötzlich zu frieren.
»Wo sind Sie?« fragte er
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