Macabros 087: Myriadus, der Tausendfaltige

leise.
    Der dunkelgelockte Mexikanerjunge blieb wie vom Donner
gerührt stehen. Dann wirbelte er herum.
    »Jim?!« Sein Ausruf war etwas zu laut.
    Der Guuf schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
»Leise!« stieß er hervor. »Es muß doch
nicht jeder gleich wissen, daß ich hier bin.«
    »Aber wir alle freuen uns doch.« Pepe kam atemlos auf
Jims Höhe. »Wenn das Carminia erfährt, und Björn
und…«
    »Sie sollen es noch nicht erfahren. Ich bin noch nicht ganz
fertig.«
    »Die Höhle – hängt es mit der Höhle
zusammen, Jim?«
    »Ja.«
    »Du hast sie also wirklich – gefunden?«
    »Ja.«
    »Warum bist du dann so lange weggeblieben? Björn ist
wütend. Er hat eine Suchaktion nach dir gestartet.«
    Jim kratzte sich an seinem kahlen Hinterkopf. »Das hätte
ich mir denken können, ich wollte ursprünglich auch nicht
so lange fort bleiben, verstehst du. Ich wollte mir erst
Gewißheit verschaffen.«
    »Und die hast du jetzt?«
    Jim wiegte den Kopf. »Wie man’s nimmt. Der Weg nach dort
scheint jetzt offen zu sein. Es hängt mit der Anwesenheit der
Guuf auf der Erde zusammen. Das muß einige Jahrtausende
zurückliegen.«
    »Du darfst das Björn nicht verschweigen.«
    »Natürlich nicht. Er muß alles erfahren. Es
scheint sehr wichtig zu sein. Aber noch läßt sich nichts
sagen. Ich muß wieder zurück. Ich weiß jetzt auch,
wo ich in etwa bin, höre zu, Pepe, ich erzähle dir schnell
das Wichtigste.«
    Das tat er und ließ nichts aus. Er beschrieb die Totems und
das kleine Dorf, das nur aus wenigen Hütten bestand, und er
erzählte von Loll, dem Trauer und Einsamkeit den Verstand
gekostet hatten.
    »Mein spurloses Verschwinden muß Eindruck bei ihm
hinterlassen haben«, endete Jim, »das kann ihn vielleicht
davon überzeugen, daß es sich lohnt, sich mit mir
anzufreunden und das Versprechen einzulösen.«
    »Falls er sich noch an dieses erinnert.«
    »Mhm, dieses Risiko muß ich auf mich nehmen. Ich
fühle, ich bin ganz nahe am Ziel.«
    Pepe machte den Vorschlag, Jim zu begleiten, sah aber gleich
darauf ein, daß dadurch das Risiko für den Freund sich nur
noch vergrößerte. Jim war allein gegangen und mußte
auch allein zurückkehren.
    Doch sie sprachen etwas ab, das für Jim einen Risikofaktor
weniger bedeutete.
    Sie verglichen ihre Uhren und stellten sie auf die gleiche Zeit
ein. Hier auf Marlos brauchten sie keine ›Zeit‹. Der Tag
unterschied sich kaum von der Nacht. Dunkelheit gab es hier nicht. Um
jedoch einen Fixpunkt zu haben, war es unerläßlich, sich
nach Uhren zu richten, wenn eine entsprechende Situation gegeben
war.
    »Wenn du in zwei Stunden nicht zurück bist, werde ich
nachkommen, Carminia oder Danielle oder beide mitnehmen«,
bestimmte Pepe.
    Jim mußte noch eine genaue Beschreibung des Ortes geben.
Markante Punkte waren notwendig, um jenen die genaue Ankunft
möglich zu machen, die eventuell nachkommen würden.
    »Laß dich auf nichts ein, was gefährlich werden
könnte«, ermahnte Pepe noch den Freund, ehe der wieder von
Marlos verschwand.
    Im nächsten Moment veränderte sich für Jim die
Umgebung wieder völlig.
    Er versetzte sich in den durch Fackeln erhellten Raum in Lolls
Hütte.
    Das Bild hatte sich ihm eingeprägt.
    Absichtlich kam er nicht auf dem Stuhl an, sondern in der
Nähe des Schlaflagers.
    Loll stand noch immer wie erstarrt vor dem Stuhl und wandte Jim
den Rücken zu, als dieser materialisierte.
    »Hallo, Loll, hier bin ich!«
    Der kräftige Mann flog mit leisem Aufschrei herum.
    »Jim!« Sein Ausruf klang genauso überrascht wie der
Pepes vor wenigen Augenblicken auf der Insel.
    Loll hielt noch immer den Dolch in der Hand. Er blickte zwei-,
dreimal irritiert nach hinten, sah erst auf den leeren Stuhl und dann
auf Jim, den Guuf.
    Die ganze Tragweite dessen, was wirklich passiert war, schien ihm
langsam bewußt zu werden.
    Jim war eine Minute verschwunden gewesen, und nun gab es ihn
plötzlich wieder. Selbst in Lolls angegriffenem Hirn
hinterließ das einen gewaltigen Eindruck.
    Der vor zwanzig oder dreißig Jahren im Dschungel
Verschollene hielt noch immer den Dolch in der Hand. Aber diesmal
richtete er ihn nicht aggressiv auf Jim, sondern hatte ihn nach unten
gesenkt.
    Loll war sichtlich verwirrt und sprachlos.
    »Das mußt du mir zeigen«, sagte er dann, nachdem
eine Weile vergangen war, in der auch Jim kein Wort gesprochen hatte.
Er machte momentan einen ganz vernünftigen und klaren
Eindruck.
    »Erst dein Versprechen, Loll.«
    »Die Höhle, ich werde dich hinführen.