Macabros 088: Die flüsternden Pyramiden
seinen gewohnten Gang.
Es war normal, daß Philip Millan morgens gegen neun Uhr die
Villa auf dem Hügel verließ, durch die Stadt bummelte,
einen Besuch beim Buchhändler und Juwelier machte und kurz vor
dem Lunch in seinem Stammlokal einen Tee trank, um dann
pünktlich zum Essen zu Hause zu sein.
Alle, mit denen Millan an diesem Morgen sprach, denen er begegnete
und die ihn kannten, hätten keinerlei Veränderung an ihm
feststellen können.
Und doch war Philip Millan ein ganz anderer Mensch als in der
letzten Nacht.
Seit der Begegnung mit seiner Frau war er bereit, ihren Willen zu
tun, der einer Macht galt, die sie beide verehrten, die sie
stärken wollten.
Er war skeptisch und trug noch immer das vergilbte Pergament
herum. In seiner eigenen Wohnung war er nicht mehr dazu gekommen, es
genau durchzuarbeiten, sich mit dem Text intensiv zu befassen.
Das Interesse war auf seine seltsame, unerklärliche Weise
erloschen.
Auf einer Bank in dem kleinen Park griff er in seine Tasche und
entfaltete das alte, kostbare Pergament, das in der Sprache des
fünfzehnten oder sechzehnten Jahrhunderts abgefaßt
war.
Er wollte lesen.
Er hatte den festen Wunsch…
Aber – was war das?
Die Handschrift war verschwommen, er konnte sie nicht lesen.
Darüber hinaus sträubte sich etwas in ihm gegen den Inhalt
des Textes. Er scheute einfach die Mühe, sich darauf zu
konzentrieren.
»Du brauchst ihn nicht…«, schienen zahllose Stimmen
in ihm zu flüstern. »Was willst du damit? Heh –
sag’ schon? Hat dich dieses wertlose Stück Papier nicht
genug Geld gekostet? Dieser Mouselle hat dich ganz schön
betrogen… Am liebsten möchtest du ihm das Zeug um die Ohren
schlagen, nicht wahr?«
Philip Millan ertappte sich dabei, daß er
zusammenzuckte.
Waren das seine eigenen, unkontrolliert arbeitenden Gedanken oder
wirklich fremde Stimmen, die er zu hören glaubte?
Er schluckte und lauschte in sich hinein.
»Wirf das Pergament weg!« drängte es in ihm.
Ich denk nicht daran, stellte er sich dagegen.
»Aber du brauchst es nicht!«
»Es ist notwendig, um das Ritual fehlerfrei
durchzuführen…«, murmelte er.
»Unsinn! Das haben Menschen erfunden, die mit halbem Herzen
bei der Sache waren…«
»Wie meinst du das?« Philip Millan sprach mit halblauter
Stimme. Es wurde ihm ebensowenig bewußt wie die Tatsache,
daß er mit denen, die in ihm sprachen, praktisch einen Dialog
begonnen hatte…
»Wir glauben, dich richtig zu kennen – deshalb haben wir
dich ausgesucht, wie wir deine Frau auserwählt haben«, ging
das Flüstern in ihm weiter. »Du bist doch dafür,
Nägel mit Köpfen zu machen, nicht wahr?«
»Ja!«
Wieder antwortete er laut.
Ein junges Mädchen, das im selben Moment an seiner Bank
vorbei kam, blieb einen Augenblick stehen. »Wie bitte? Was
meinten Sie, Sir?«
Philip Millan sah weder das Mädchen, noch hörte er
dessen Stimme.
Gedankenversunken saß er da und sprach mit den Stimmen und
sich.
Kopfschüttelnd ging die Fremde weiter, warf nach einigen
Schritten noch mal einen Blick zurück und beobachtete den
elegant gekleideten, distinguierten Herrn mittleren Alters eine
Weile, wie er da saß und den Kopf leicht geneigt hielt, als
würde er aufmerksam jemand zuhören…
»Du wirst nur in den vollen Genuß deiner neuen Kraft
kommen, wenn du Ballast über Bord wirfst«, echoten die
Stimmen in ihm.
»Welchen Ballast?«
»Skrupel zum Beispiel… Liebe… Mitleid…
Gefühle, die du kaum noch kennst, die aber immer noch vorhanden
sind…«
»Woher… wißt ihr das?«
»Wir kennen dich genau, denn wir sind in dir. ICH bin in
dir… Rha-Ta-N’mys Geist… Hast du dir niemals
gewünscht, mit mir sprechen zu können?«
Millan atmete tief durch. Eine eigenartige Erregung hatte ihn
gepackt. Rha-Ta-N’my sprach zu ihm? Aber wie war das zustande
gekommen? Hatten die Anrufungen und Beschwörungen
schließlich doch noch zum Erfolg geführt?
Diebische Freude erfüllte ihn, und er kicherte leise. Dabei
rieb er die Hände aneinander.
»Narren«, stieß er hervor, und aus
halbgeschlossenen Augen sah er den Passanten nach, die die
Straße entlanggingen und sie überquerten. »Narren
seid ihr alle! Ihr lebt an eurem Leben vorbei, wißt nicht,
welche Wege und Türen euch offen stehen. Macht könntet ihr
gewinnen…«
»Die Macht, die du schon hast…«, sagten die Stimmen
in ihm. Warum hatte er nur dauernd das Gefühl, daß mehrere
Stimmen gleichzeitig zu ihm sprachen?
»Welche Macht? Was vermag ich schon auszurichten?«
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