Macabros 103: Nebel-Labyrinth des Tschonn
echt noch etwas zu entdecken. Hier haben Sie die
Chance!« Er deutete in die Runde. »Bücher in
Hülle und Fülle. Aber bei weitem nicht alles. In einem
alten, nicht mehr bewohnten Haus am Stadtrand von Paris –
westlich von hier – habe ich ein Lager eingerichtet. Zwei
Kellerräume voller Bücher, Atlanten, Schriften… sie
müßten sich’s mal ansehen…«
»Wunderbar!« Die Augen des Mannes begannen zu
leuchten.
Er inspizierte einige Regale, die Monsieur Henri ihm zeigte, nahm
auch das eine oder andere Buch zur Hand.
Monsieur Henri blieb an seiner Seite. Aus den Augenwinkeln
kontrollierte er die Stelle, an der sich die sprechende Krähe
gezeigt hatte. Dort war nichts mehr zu sehen.
Der Antiquitätenhändler war nervös. »Ich
hätte eine Bitte an Sie, Monsieur«, sagte er leise,
während er einen Stoß Bücher beiseite schaffte.
Wortlos sah ihn der Fremde an.
»Helfen Sie mir…«
Monsieur Henri wisperte so leise, daß der andere es kaum
verstand.
»Was ist denn los?« wollte dieser wissen.
»Es ist… jemand… etwas…«, verbesserte er
sich schnell, »im Laden…«
»Werden Sie bedroht?«
»Ja.«
Der Besucher wurde unruhig. Nervös sah er sich um. »Aber
ich kann nichts bemerken. Will man Sie ausrauben?«
»Das ist es nicht. Es ist etwas anderes.«
Ein fragender Blick…
»Es ist nicht leicht zu erklären«, man sah dem Mann
an, daß er sich schwer tat. »Da sind… Vögel im
Laden…«
»Vögel?« Die Miene seines Gegenüber verzog
sich zur Grimasse. Der Kunde musterte den Geschäftsinhaber mit
eigenartigem Blick.
»Ja…, Krähen… sie sind entflogen… sie
können sprechen…«
»Ah, ich verstehe! Sie sind sehr kostbar?!«
»Oui…« Monsieur Henri war froh, daß sich das
Gespräch entwickelte, und er nun eine einigermaßen
plausible Erklärung für sein Verhalten geben konnte, ohne
daß der andere ihn gleich für verrückt hielt.
»Sie wollen nicht, daß sie hinausfliegen auf die
Straße und…«
Der Franzose nickte. »Genauso ist es, Monsieur. Helfen Sie
mir bitte, die Vögel einzufangen… es sind drei
Stück.«
»Wo sind sie denn?«
Die Stimme des Touristen klang immer noch nicht fest. Man merkte
ihm an, daß er ins Nachdenken geraten war. Monsieur Henri
wußte auch, weshalb. Er hatte dem anderen bestätigt,
daß er praktisch bedroht würde. Aber drei entflogene
Krähen in seinem Laden stellten schließlich keine
Bedrohung dar.
Wenn der andere gewußt hätte, was er während der
letzten Minuten vor seiner Ankunft erlebt hatte!
Doch jede Erklärung in dieser Richtung mußte
lächerlich, absurd klingen. Er durfte kein Wort von einer
sprechenden, ihn bedrohenden Krähe mehr sagen! Er ärgerte
sich jetzt darüber, daß er einen Moment ernsthaft mit
diesem Gedanken gespielt hatte.
»Sie haben sich in den Regalen und den Kleidern dort vorn
versteckt. Ich bin richtig froh, jemand hier zu haben, der mir helfen
kann. Ich bin nicht mehr der jüngste, Monsieur, nicht mehr so
beweglich, müssen Sie verstehen…«
»Ich mach’ das schon, Monsieur. Wenn Sie mir
zeigen…«
Der Franzose beeilte sich, an Rani Mahays Kleider zu kommen.
Dort war alles ruhig. Nichts bewegte sich. Es scheint, als
würden die großen Vögel begreifen, worum es ging. Sie
machten nicht mehr auf sich aufmerksam.
Aber sie waren da. Der Händler wußte es genau. Er hatte
sie gesehen.
»Sie hocken im Ärmel und in einem Hosenbein«,
wisperte er. »Wir müssen sie blitzschnell
zuhalten…«
»Voilà, das ist kein Problem…«, der Fremde
nahm sich die Ärmel vor, Monsieur Henri die Hosenbeine.
Die großen Hände des Kunden drückten die
Armlöcher zu. Da schossen die beiden schwarzen Schatten, die zu
einem einzigen verschmolzen, auf ihn zu.
Sie kamen hinter der Jacke vor, hatten sich dort verborgen
gehalten.
Zwei Krähen!
Ihre spitzen Schnäbel wurden zu tödlichen Waffen. Sie
bohrten sich in die Augen des Mannes, der die Absicht gehabt hatte,
die Krähen zu fangen!
*
Ein gurgelnder, dumpfer Schrei entfuhr der Kehle des
Angegriffenen. Monsieur Henri erbleichte, als er die blutenden Wunden
sah.
Die Dinge liefen derart schnell ab, daß sie kaum zu
verfolgen waren. Es schien, als würden sie beschleunigt
abrollen, wie durch magischen Zauber beeinflußt.
Ein dritter Schatten tauchte auf. Er stürzte sich von oben
auf den Getroffenen, der nach vorn taumelte und beide Hände
zitternd vor das Gesicht schlug.
Die dritte Krähe hackte mit ihrem Schnabel in den Kopf des
Mannes. Der kam zu keiner
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