Macabros 103: Nebel-Labyrinth des Tschonn
Hosenbein der
violetten Seidenhose, die andere machte sich unterhalb des
Ärmels der Glimmerjacke zu schaffen.
»Was hat das… alles zu bedeuten? Was – geht –
hier vor?« stammelte der Mann. Schon die Tatsache, daß er
sich mit den Vögeln auf einen Dialog eingelassen hatte,
berührte ihn eigenartig.
Er gab sich einen Ruck und entschloß sich, gegen die
unheimliche, unverständliche Szene anzugehen.
»Was tut ihr mit den Kleidern?« stieß er
hervor.
»Zurück!« fuhr die Krähe ihn an, die die ganze
Zeit über das Wort geführt hatte. Ihre Sprache war eisig
und kalt. Er konnte sich vorstellen, daß so ein Mensch sprach,
der kein Gefühl mehr kannte, der seine Seele dem Teufel
verschrieben hatte und dem Bösen huldigte…
»Verschwindet!« zischte der Mann, »’raus aus
meinem Laden!«
Ein leises, häßliches Lachen antwortete ihm.
»Nicht du bestimmst, was hier geschieht, sondern wir tun, was
wir tun müssen, um den Lauf der Dinge zu beeinflussen«,
bekam er scharf zu hören.
Monsieur ballte die Fäuste.
Was hier geschah, ging nicht mit rechten Dingen zu.
Teufelsspuk!
Dieses Pärchen hatte etwas zurückgelassen, was ihn auf
irgendeine Weise beeinflußte, seine Sinne betäubte und ihn
Dinge sehen und hören ließ, die es nicht gab.
Aber – was war der Grund? Was wollten die Fremden von
ihm?
Es wurde ihm nicht bewußt, daß er diese Frage zornig
unwillkürlich an die Krähe richtete.
»Sie – wollen nichts von dir«, klang es
spöttisch zurück. »Aber wir! Hindere uns nicht daran,
wenn du weiterhin so leben willst wie bisher. Zurück von den
Kleidern des Mannes! Rühre sie nicht an!«
Er war zwei Schritte nach vorn gegangen, um die großen,
schwarzen Vögel aus Jackett und Hose zu vertreiben.
Er sah das aufgebauschte Hosenbein, den Ärmel, in dem es
zuckte, als enthalte er eigenartiges Leben.
Wie elektrisiert blieb der Mann stehen.
Da tauchte ein Schatten an der Eingangstür auf. Ein Gesicht
drückte sich an das verschmierte Glas.
Monsieur Henri fiel ein Stein vom Herzen.
Gott sei Dank! Es kam jemand, um ihn aus einem Alptraum zu
befreien…
*
Das Läuten der hellen Glöckchen kam ihm vor wie
Engelsmusik: Endlich ein vertrauter Laut, nicht mehr die helle,
unangenehme Stimme aus dem Schnabel der Krähe.
Der Antiquitätenhändler atmete auf. Er löste sich
vollends von der Verkaufstheke und eilte dem eintretenden Besucher
dienstbeflissen entgegen.
»Bon jour, Monsieur!« sagte er freundlich. Aus seiner
Stimme klang Erleichterung, als er den großen Mann auf sich
zukommen sah. »Was kann ich für Sie tun?«
Der Fremde war zwei Köpfe größer als er,
dunkelhaarig mit leicht graumelierten Schläfen. Er trug eine
randlose Brille und machte einen sympathischen Eindruck.
»Ich bin für zwei Tage in Paris, Monsieur«,
erklärte er in holprigem französisch. »Während
andere sich die Sehenswürdigkeiten der Stadt ansehen und nach
Einbruch der Dunkelheit das ›Moulin Rouge‹ oder ›Crazy
Horse‹ aufsuchen, um sich von den Strapazen des Tages zu
erholen, fröne ich einem eigenwilligen Hobby. Ich schlendere
entweder weiter durch enge und schmale Gassen auf der Suche nach
alten Läden, in denen eventuell das eine oder andere gute
Stück zu entdecken sein könnten. Ich sammle alte
Bücher, Landkarten und Handschriften aus dem frühen
zwölften und dreizehnten Jahrhundert. Ich kann es mir erlauben,
gleich zwei Jahrhunderte zu berücksichtigen«, fügte er
lächelnd hinzu. »Mein Hobby ist nicht sehr ergiebig. So
viele Folianten, wie ich gern besitzen möchte, gibt es leider
nicht mehr. Manchmal nur hat man Glück, ein wirklich
guterhaltenes, seltenes und vor allem echtes Stück zu erwerben.
Ich stöbere stundenlang in Antiquitätengeschäften und
Buchhandlungen herum. Jetzt habe ich Ihr Unternehmen durch einen
Zufall entdeckt. In Nachlässen kann man manchmal einen Band,
eine Karte, ein Pergament entdecken… haben Sie so
etwas?«
Der Franzose erkannte am Akzent, daß es sich um einen
Deutschen handelte.
Monsieur Henri hatte nur mit halbem Ohr zugehört.
»Ja, Bücher und Landkarten gibt’s ’ne Menge in
meinem Laden. Aus welchem Jahrhundert sie stammen – das
weiß ich allerdings nicht so genau. So präzise ordne ich
die Dinge nicht. Obwohl es sich bestimmt rentieren würde. Wenn
die eine oder andere Kostbarkeit wirklich darunter ist, wird mir das
gar nicht so bewußt. Ich scheue einfach die Arbeit. Vielleicht
ist es auch so, daß ich Leuten wie Ihnen das Vergnügen
geben will,
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