Macabros 115: Skorokka - Strom ins Totenland
meines Freundes muß ich Vorsicht
walten lassen. Ich mußte mit Gefahr rechnen, als ich hierher
kam… Nein, ich weiß nicht, wer du bist.«
»Ich bin Vunar, die grüne Priesterin…«
»Ich habe nie von dir gehört.«
Ein kaum sichtbares Lächeln umspielte ihre Lippen. »Wer
ich bin – erfährt man auch immer im letzten
Augenblick… ich bin erstaunt, daß du jetzt, da du schon
hier bist, nichts von meiner Existenz weißt. Wer hierher kommt,
weiß von der grünen Priesterin, denn sie wird ihn in den
Tod begleiten!«
*
Björn Hellmark fröstelte.
»Dazu gehören immer zwei«, konnte er sich die
Bemerkung nicht verkneifen und hob sein Schwert wieder, das er hatte
sinken lassen. »Einer, der sich begleiten läßt, und
einer, der begleitet…«
»Du bist ein merkwürdiger Mensch«, scholl es ihm
entgegen, was nicht unfreundlich klang. »Warum willst du auf
eine Ehre verzichten, die jedem zuteil wird, der sich im Land der
grünen Priesterin aufhält? Hier ist das Vorfeld in das Land
der Toten. Und nur wer Vunar begegnet, hat die Chance, daß
seine Seele, sein Geist wiederkehren und lebendig werden kann…
So war es immer. So steht es geschrieben und so wird das Gesetz an
jedem erfüllt, der hierher kommt…«
»Ich bin nicht tot… noch nicht«, entgegnete er der
grünen Priesterin. »Ich habe auch keine Sehnsucht, in jener
speziellen Region des Jenseits auf eine Befreiung meiner Seele und
meines Geistes zu warten.«
»Warum bist du dann hier?«
»Ich bin auf dem Weg ins Jenseits.«
»Dann bin ich für dich zuständig. Von hier aus
gleiten die Toten-Flöße auf dem Skorokka ins Jenseits.
Dorthin fließt der Strom. Und nur die Toten-Flöße
sind in der Lage, gegen die Strömung zu schwimmen. Das ist das
Geheimnis der grünen Priesterin, die schon immer diese Aufgabe
erfüllt und bis ans Ende der Zeiten erfüllen
wird…«
»Wo sind die Bewohner der Hütten?« fragte
Björn Hellmark, dem noch immer manches unklar war.
»Die Hütten sind ein Relikt aus einer Zeit, die
vergangen ist. Die Bewohner sind tot, die Flöße haben sie
– wie das Gesetz es gebietet – in das Jenseits gebracht.
Jeder Körper ist nur für eine bestimmte Zeit Hülle
für Geist und Seele. Sie allein sind ewig. Aber ehe sie eingehen
ins Universum, Teil von ihm werden, für immer frei und
ungebunden, ist eine Kette von Wiedergeburten in vielerlei Form und
Gestalt unerläßlich. Erst war das Nichts, dann kam die
Glut der Feuer- und Magmaströme, dann die Steine. In allem
begann ein Teil von uns, unbewußt. Geist und Seele waren einst
Stein, wurden dann organisch. Jede Materie ist ewigem Wandel
unterzogen. Wir wurden Körper, Menschen… wie du einer noch
bist. Aber damit ist der Zyklus nicht zu Ende. Nicht für uns.
Nochmals beginnt der große Kreislauf… in Stein, in
Erde… als Tier oder Pflanze… dies ist unsere einzige
Hoffnung.«
Die grüne Priesterin blickte ihn unentwegt an.
Der Sinn der Worte dieses Wesens, das halb Intelligenz, halb
Pflanze war, blieb bis auf einen kleinen Rest dunkel und unklar.
Björn, der schon so viele unheimliche und
außergewöhnliche Abenteuer erlebt hatte, mußte sich
eingestehen, daß die Begegnung mit der grünen Priesterin
ihm Rätsel aufgab.
Der Wechsel der Erscheinungsformen des Lebens war ihr bekannt und
spielte in ihrem und dem Dasein ihres Volkes offenbar eine
entscheidende Rolle.
Aber – sie war allein. Das Dorf, in dem offensichtlich einst
Menschen wohnten, die normale menschliche Gestalt hatten, wie
Björn aus der Form der Häuser und Möbelstücke
schloß – dieses Dorf war ausgestorben.
Das Ganze weckte in ihm den Gedanken an ein besonderes Vorkommnis,
an einen Bann oder Fluch, der sich hier auswirkte und den die
grüne Priesterin scheinbar als einzige überstanden
hatte.
Sie hatte von einer Hoffnung gesprochen, ging es ihm durch den
Sinn. Also – war etwas passiert, war etwas in das Leben der
Bewohner dieses Hüttendorfes eingedrungen, das sie aus dem
normalen Lebensrhythmus geworfen hatte…
Die Priesterin war geblieben. Aber – war dies wirkliche ihre
ursprüngliche Gestalt? Hatte sie sich davor frei auf ihren zwei
Beinen durch das Dorf bewegen können – oder lebte sie
wirklich schon immer als Zwittermensch?
Björn konnte seine Gedankengänge nicht bremsen.
Zu viele Dinge hatte er schon gesehen und erlebt, um auch das
Unwahrscheinlichste nicht annehmen zu können.
»Was ist das für eine Hoffnung, die ihr habt?«
fragte er.
»Daß der Rhythmus noch mal von vorn
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