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Macabros Neu 01 - Der Leichenorden von Itaron

Macabros Neu 01 - Der Leichenorden von Itaron

Titel: Macabros Neu 01 - Der Leichenorden von Itaron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Shocker
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der genauen Beschreibung, die Bornier ihr gegeben hatte, den Weg zum Schloss gefunden hatte. Anna begriff nicht, wie man so abgeschieden leben konnte. Das nächste Dorf lag mindestens zwei Dutzend Kilometer entfernt.
    Annas Blick fiel auf die Rückseite der mannshohen Leinwand. Sie lächelte abschätzig. Sie sollte das Bild nicht sehen, bevor es fertiggestellt war … Offenbar glaubte Bornier, dass sie sich ihm aus echtem, künstlerischem Interesse als Modell zur Verfügung gestellt hatte. Das war jedoch nicht der Fall. Über hundert Maler hatten Anna inzwischen porträtiert oder ihre attraktiven Kurven in Öl oder Aquarell festgehalten. Der Job war für sie reine Routine. Ob die Bilder von guter Qualität waren oder nicht, interessierte sie nicht. Für sie zählte nur das Geld, mit dem sie ihre kleine Wohnung finanzierte.
    Diesmal aber war es anders. Je länger Anna auf die Rückseite der Leinwand starrte, desto stärker wurde ihr Verlangen, sich das Bild anzusehen. Wie Bornier sie wohl gezeichnet hatte? Abstrakt oder natürlich? Und in welcher Umgebung? Ob er nur das Gesicht und den Oberkörper gemalt hatte?
    Sie machte einen Schritt auf das Bild zu – und blieb stehen. Borniers Verbot war deutlich gewesen. Er hatte ausdrücklich verlangt, dass sie ihren Platz nicht verlassen sollte. Warum nicht? Hatte sie nicht ein Recht darauf zu sehen, ob sie auf dem Bild gut getroffen war?
    Er muss es ja nicht merken. Ich sehe mir schnell das Bild an, und schwupp – noch bevor Michael zurückkommt, stehe ich wieder an meinem Platz. Die Entscheidung war gefallen. Auf Zehenspitzen näherte sich Anna dem Bild. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, erregte sie.
    Anna war jetzt nur noch einen Schritt von dem Bild entfernt. Ihre Finger waren eiskalt, als sie die Rückseite der Leinwand berührte. Der Stoff dagegen war seltsamerweise handwarm …
    Sie fasste sich ein Herz und ging um die Leinwand herum. Sie schloss unwillkürlich die Augen, weil sie den Anblick des Bildes noch ein wenig hinauszögern wollte. Instinktiv ahnte sie, dass Michael Bornier von allen Malern, mit denen sie bisher gearbeitet hatte, der Fähigste war. Wahrscheinlich hatte er etwas ganz Besonderes geschaffen. Ein Bild für die Ewigkeit. Ein Bild, auf dem sie, Anna Huber, zu sehen war und das selbst noch in hundert Jahren die Leute in Museen beeindrucken würde …
    Anna öffnete die Augen.
    Und stieß einen Ruf der Enttäuschung aus.
    Insgeheim hatte sie bereits erwartet, dass das Bild ganz anders aussah, als sie erwartet hatte – aber mit dieser Überraschung hatte sie nicht gerechnet. Ihr Mund stand offen und eine Welle des Zorns wallte durch ihre Brust, während sie fassungslos auf das Gemälde starrte.
    Es zeigte nicht sie. Es zeigte überhaupt keine Frau oder überhaupt nur irgendeine Gestalt, die entfernte Ähnlichkeit mit Anna Huber hatte.
    Es zeigte eine Landschaftsszene – und zwar ein trutziges, altes Schloss, das auf einer hohen Klippe an einer sturmumtosten Küste stand.
    »Das hättest du eigentlich nicht sehen sollen«, sagte eine kalte Stimme hinter ihr.
    Sie hatte nicht gehört, dass Michael Bornier zurückgekehrt war. In der Hand hielt er die versprochene Limodose. Seine Finger umschlossen sie so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. In seinen Augen blitzte der Zorn.
    Tausend Gedanken rasten durch Annas Kopf. Sie versuchte zu verstehen, was sie hier vor sich sah. Warum hatte Bornier sie tagelang Modell stehen lassen, wenn er in Wirklichkeit ein ganz anderes Motiv malte?
    »Was hat das zu bedeuten, Michael?«
    Er ging an ihr vorbei und stellte die Limodose auf den kleinen Beistelltisch neben der Staffelei, auf dem die Farbpalette abgelegt war. Seine Bewegungen waren ruhig und klar, und dennoch hatten sie etwas Bedrohliches. Anna spürte die Veränderung beinahe körperlich. Der Gedanke erschien absurd, aber irgendwie fühlte sie, dass dieser Michael Bornier, der ihr jetzt gegenüberstand, nicht mehr der Maler war, der sie als Modell engagiert hatte.
    »Das hättest du nicht sehen sollen«, wiederholte er vorwurfsvoll. »Ich habe das Verbot aus gutem Grund ausgesprochen. Nun wirst du mit den Konsequenzen leben müssen.«
    »Aber ich verstehe nicht …«
    Mit den Konsequenzen? Was redete er da für einen Unsinn? Sie konnte ihm sagen, was diese Entdeckung für Konsequenzen haben würde! Sie würde sich augenblicklich anziehen, ihre Sache packen und von hier verschwinden!
    »Sieh hin!«, verlangte Bornier.

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