Mach mal Feuer, Kleine - Roman
verstecken musste, egal wo, sogar mitten im Getöse einer dreckigen Fließbandhalle.
Aber war das wirklich das Leben, war das wirklich alles? Morgens zur Schicht, irgendwie den Tag hinter sich bringen, nachmittags ein paar Flaschen Bier mitgehen lassen und nach Hause wanken, jeden Tag dasselbe, morgen, übermorgen, immer wieder … Das wird sich die Frau Doktor aus Dobřany |228| auch nicht vorgestellt haben, als sie ihm geraten hatte, sich möglichst schnell Arbeit zu suchen und sein verlorenes Gleis, damit er nicht mehr vom Weg abkomme …
Sobald die ersten Grashalme aus der Erde sprossen und Löwenzahn und Goldregen aufleuchteten, zog es ihn wieder an den Fluss, stundenlang sah er dem Wasser zu, in der Arbeit verstopfte er sich die Ohren mit Watte, und zu Hause schloss er die Augen, damit er Marketa nicht sah, ihre Augen blau wie Quellwasser und ihr Haar gelb wie reifes Getreide, damit er die Stimmen nicht hörte, die ihm einflüsterten, hier hätte er nichts verloren.
Ida kümmerte es schon längst nicht mehr, ob ihre Kinder zur Schule gingen, nachts zu Hause schliefen oder etwas gegessen hatten … Ihre Welt war wieder geschrumpft, sie begann und endete bei einer Flasche Rum oder Wodka, die ihr Marián und Imro brachten, manchmal musste sie sich auch mit Marillenschnaps oder Apfelwein zufriedengeben oder sich auf ihre alte Pilgerreise zwischen dem Kiosk am Hauptbahnhof und den verrauchten Kneipen von Petrohrad machen.
Sie sah aus wie eine zerknitterte Zeitung vom Vortag, wie ein alter Apfelbaum, der längst keine Äpfel mehr trug. Dafür aber hatte sich Anetka gemacht! Die Pickel auf ihren Wangen waren verschwunden, ihre Hüften rundeten sich, und statt zweier kleiner Kirschen waren unter ihrem T-Shirt zwei runde Äpfel zu erkennen. Andrejko ärgerte sich fast über sich selbst, dass er Anetkas Veränderung bemerkte, dass er sah, wie aus der kleinen Göre, aus der einstigen Bohnenstange eine junge Frau geworden war … Unsere Mädchen blühen so schnell auf, dachte er verträumt, auf der ganzen Welt gibt es keine schöneren Kinder als kleine Zigeunerinnen mit Mandelaugen, auch unsere Knirpse sind einmalig, mit diesen Bengels, |229| die um die Schießbuden und Karussells herumlungern, kann es selbst der frechste Gadsche-Junge nicht aufnehmen. Kein weißes Kind würde von sich aus auf der Straße zu singen anfangen, kein weißer Junge würde auf einer Parkbank auf der Gitarre schrammeln und seine Finger mit den ersten Akkorden schinden, kein weißes Mädchen würde Passanten am Ärmel zupfen: Tschuldigung, haben Sie ’ne Zigarette für mich? Oder wenigstens zwei Kronen?
Aber es passierte immer dasselbe, alles drehte sich um, die Gadsche folgten ihrem Weg, während unseren Leuten die Puste ausging und sie bei ihren Karussells mit dem ganzen Goldfirlefanz stehen blieben, sie nutzten nicht mehr jeden freien Platz zum Kicken, denn man rannte einem Ball nicht hinterher, wenn die Stimme brach und Flaum unter der Nase spross, ein Geck im weißen Hemd und mit Ring im Ohr spielte nicht mehr Fußball, auch die Mädchen, die gestern noch kichernd auf dem Metallgeländer vorm Kino gehockt hatten, schoben heute Kinderwagen, und ihre Bäuche wuchsen schon wieder. Alles kehrt an den Anfang zurück, der Kreis schließt sich, alles geht wieder von vorne los …
Er, Andrejko, hatte diese rasende Fahrt noch schneller hinter sich gebracht als die anderen, wie ein Wagen in der Achterbahn ist er da durchgerattert, sein Leben war ihm wie ein Häufchen Sand durch die Finger gerieselt, nicht ein einziger Kieselstein oder ein kleiner glatter Handschmeichler war ihm geblieben … Während seine Altersgenossen noch mit Murmeln spielten, schmiegte er sich schon an Jolanka, als sie auf geliehenen Rollern und Fahrrädern durch Žižkov flitzten, brachte er schon das erste gestohlene Geld nach Hause, wie ein Erwachsener, der seine Lohntüte abliefert. Und als sie Mädchen anmachten, die ersten Zigaretten rauchten und sich zum ersten Mal nach dem Genuss von Apfelwein übergeben |230| mussten, wurde er schon mit Handschellen ins Gefängnis gebracht …
Er hatte alles und jeden überholt, deswegen war er jetzt so müde, deswegen fühlte er sich wie ein Greis.
Seine Füße trugen ihn wie von selbst zum Fluss, er lief stromaufwärts und sah dabei nur seine Fußstapfen, die von jedem Regenguss aufgeweicht und weggespült wurden, er sah nur seinen gewundenen und verschlungenen Weg, auf dem ihm alles abhanden
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