Machiavelli: oder Die Kunst der Macht (German Edition)
Rechenschaft über sein Geschichtsbild ab. Weil der Mensch durch ambizione und avarizia seinem Wesen nach immer gleich bleibt, ist die Geschichte dem Gesetz der dauernden Wiederholung unterworfen. Staaten steigen auf, behaupten sich eine Zeitlang im Zenit ihrer Ordnung und ihrer Macht und gehen danach ebenso gesetzmäßig zugrunde. Fraglich war für Machiavelli allein, ob ein Staat, der diesen Zyklus bereits einmal durchlaufen hatte, zu einem Neuanfang fähig war. Für Florenz, das in Machiavellis Augen am tiefsten abgesunkene Staatswesen überhaupt, war das die Frage aller Fragen. Hier schwankte Machiavelli bis zum Schluss zwischen abgrundtiefem Pessimismus und vorsichtiger Hoffnung.
Aus der regelmäßigen Wiederkehr bestimmter historischer Grundsituationen und Konstellationen leitete Machiavelli seinen Anspruch ab, die ewig gültigen Erfolgsregeln der Politik entdeckt zu haben:
Wenn ich bedenke, welche Ehre dem Altertum erwiesen wird und wie oft – um nur ein einziges Beispiel anzuführen – ein Bruchstück einer antiken Statue teuer erworben wurde, um sie als kostbaren Besitz zu hüten, das eigene Haus damit zu ehren und sie den Liebhabern dieser Kunst zur Nachahmung zu empfehlen, und wie diese dieses Fragment mit allem Fleiß und aller Kraft in ihren eigenen Werken darzustellen versuchen; und wenn ich andererseits die großartigsten Leistungen von Königreichen und Republiken des Altertums, von Königen, Feldherren, Bürgern, Gesetzgebern und anderen um das Vaterland verdienten Männern betrachte, wie sie uns die Geschichte erzählt, stelle ich fest, dass diese zwar bewundert, doch nicht nachgeahmt werden. Im Gegenteil: Diese Großtaten zu wiederholen, wird um jeden Preis vermieden, so dass von der antiken virtù nichts mehr zu erkennen ist, worüber ich mich nur wundern und zugleich tiefen Schmerz empfinden kann.[ 24 ]
Um den Heldentaten der Römer nacheifern zu können, muss man die Regeln der vollendeten Republik erst einmal kennen. Jeder politische Neuanfang beginnt mit der Analyse des antiken Musterstaats Rom. Das war die Aufgabe Machiavellis. Er beanspruchte, die Gesetze der Geschichte und die Regeln des perfekten Freistaats zu entschlüsseln, die die anderen nur noch anwenden mussten, am besten unter seiner Leitung. Doch leider waren die Verhältnisse nicht so:
Trotzdem finden sich zur Zeit weder Fürsten noch Republiken, die den Beispielen der Antike folgen, um den Staat zu ordnen, aufrechtzuerhalten und zu regieren, die Miliz aufzustellen und Krieg zu führen, die Untertanen zu beherrschen oder das Herrschaftsgebiet zu erweitern.[ 25 ]
Damit definierte Machiavelli gleich zu Beginn der Discorsi das Endziel der perfekten Republik: Eroberung und Ausdehnung bis an die Grenzen der bekannten Welt. Rom war von der Hirtensiedlung auf dem Palatin zur Weltherrschaft aufgestiegen. Wie, mit welcher Verfassung, mit welchem Heer, mit welchen Strategien und welcher Religion diese Eroberung gelungen war und daher auch in der Gegenwart gelingen konnte, wenn man diese Regeln berücksichtigte, war das Thema der Discorsi.
Mit seiner Selbstanpreisung als Wegweiser zur dauerhaften Größe des Staates teilte Machiavelli wütende Kritik an verschiedene Adressen aus. Mit Hohn wurden die humanistischen Gelehrten überschüttet, die sich leidenschaftlich mit Kunst und Dichtungstheorie der Antike beschäftigten, ohne den wahren Schatz des Altertums zu entdecken. Sie priesen die Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens, ohne deren Lektionen überhaupt zu kennen:
Diese Vernachlässigung entsteht, wie ich glaube, nicht einmal vorrangig aus der Schwäche, in die die gegenwärtige Religion die Welt gestürzt hat oder aus dem Übel, das so vielen christlichen Gegenden und Städten eine ehrgeizige Muße beschert hat, sondern vor allem aus der Unkenntnis der Geschichte.[ 26 ]
Damit tritt ein ganzes Geflecht von Ursachen für die gegenwärtige Dekadenz Italiens hervor: Die Ignoranz in Sachen Vergangenheit verführt die Menschen zur Abkehr vom Staat. Wenn sie sich lieber in die «ehrgeizige Muße», das heißt in ihre Studien zu Kunst, Ästhetik und Philosophie vertiefen, anstatt sich der Größe des Staates zu widmen, ist die Talsohle des Niedergangs erreicht. Dazu hat das Christentum ganz wesentlich beigetragen. Wer eine funktionsfähige Republik gründen will, muss daher zunächst den verderblichen Einfluss von Kirche und Religion ausschließen:
So verdanken wir Italiener in erster Linie der Kirche und den Priestern, dass wir heute
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