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Machiavelli: oder Die Kunst der Macht (German Edition)

Machiavelli: oder Die Kunst der Macht (German Edition)

Titel: Machiavelli: oder Die Kunst der Macht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Reinhardt
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es zu überwinden.[ 91 ]
    Diese Selbstkritik ist in Wirklichkeit ein Freispruch, denn Fortuna handelt unvorhersehbar. Dass Castruccio seinem Nachfolger einen großen, jedoch schwachen Staat hinterlässt, ist gleichfalls nicht seine Schuld, denn mit etwas mehr Zeit hätte er ihn gefestigt.
    Die Menschen sind blind für ihre eigenen Fehler. Auch diesen Lehrsatz Machiavellis illustriert der sterbende Castruccio mit seiner Rede an sein Mündel Paolo Guinigi:
Als dein Vater starb, vertraute er mir dich und dein Schicksal an. Und so habe ich dich mit der Liebe und Treue genährt und aufgezogen, die ich ihm schuldete und schulde. Und damit dir nicht nur das Erbe deines Vaters, sondern auch all das gehören sollte, was mein Glück und meine Tatkraft gewannen, habe ich nie geheiratet. Damit wollte ich vermeiden, dass mich die Liebe zu meinen Kindern daran hinderte, dem Blut deines Vaters die Dankbarkeit zu erweisen, die ich ihm zu schulden glaubte.[ 92 ]
    Dankbarkeit hat jedoch in der Politik keinen Platz. So stirbt der ansonsten so exemplarische Fürst ohne Nachkommen, die sein Werk hätten fortsetzen können. Guinigi, sein Erbe, taugt nur zum Bewahren, nicht zum Erobern.
    So geht die Geschichte Castruccio Castracanis wie die Geschichte Cesare Borgias aus: Alles hat der Herr von Lucca richtig gemacht, bis auf den einen verhängnisvollen Fehler, keine eigenen Söhne zu hinterlassen. Die Kinderlosigkeit Castruccios war eine weitere Erfindung Machiavellis, der sich darüber hinaus mancherlei Abweichungen von der verbürgten historischen Wahrheit erlaubte. So las sich die Vita des Luccheser Stadtherrn eher wie ein historischer Roman, zumal Machiavelli diese «Fälschungen» so offensichtlich anbrachte, dass sie ins Auge stechen mussten. Dadurch wird die scheinbar nach humanistischen Regeln verfasste Lebensgeschichte eines fast vollendeten Herrschers zur Parodie auf die humanistische Geschichtsschreibung und Machtverherrlichung. Machiavelli fälschte hemmungslos Fakten, log also mit beispielloser Dreistigkeit in den Einzelheiten, um im Großen gerade dadurch die Wahrheit zu sagen. Die Humanisten dagegen waren präzise in den Details, um den pflichtvergessenen Mächtigen umso würdeloser zu huldigen, sagten also im Einzelnen die Wahrheit, um in allen wesentlichen Punkten zu lügen! Hohn über diese Pseudo-Authentizität schüttet Machiavelli nicht zuletzt durch die Angabe der Gefallenen in Castruccios letzter Schlacht aus: Genau 20.231 waren es, keiner mehr und keiner weniger! Dabei musste jedem einsichtigen Leser klar sein, dass diese Zahl nicht nur maßlos übertrieben, sondern ebenfalls frei erfunden war. Keine Quelle listete die Toten jemals so minutiös auf, und wenn doch, wurde sie gerade dadurch unglaubwürdig.
    Auch die erinnerungswürdigen Aussprüche des sterbenden Helden, mit denen eine humanistische Lebensgeschichte zu schließen hatte, mussten die Leser befremden. Trotz seiner Ehelosigkeit singt Castracani das Loblied der sexuellen Ausschweifung und der großzügigen Verschwendung; verhasst sind ihm die Ängstlichen und die Geizhälse. Damit sprach er Machiavelli voll und ganz aus dem Herzen:
Als ihn jemand kritisierte, weil er zu aufwendig lebe, sagte Castruccio: Wenn das ein Laster wäre, würde man nicht bei den Festen zu Ehren unserer Heiligen so kostspielige Gastmähler veranstalten![ 93 ]
    Was den toten Märtyrern im Himmel recht ist, ist den lebenden Mächtigen billig, denn Herrschaft bedarf der eingängigen Propaganda.
    Anstößig war auch, dass Castruccio für die Macht klaglos sein Seelenheil opferte. Das fiel ihm nicht schwer, da das Christentum die falsche Religion ist, die die Falschen belohnt:
Die Frage, ob er nie daran gedacht habe, Mönch zu werden, verneinte er: Es erscheine ihm seltsam, dass Fra Lazzero (= ein sprichwörtlicher Frömmler und Heuchler) ins Paradies, ein Uguccione della Faggiuola hingegen in die Hölle komme.[ 94 ]
    Machiavellis Schlussurteil über Castruccio Castracani lautet wie folgt:
Und so wie er zu Lebzeiten weder einem Philipp von Mazedonien, dem Vater Alexanders, noch dem Römer Scipio nachstand, starb er auch im selben Alter wie diese beiden. Und ohne Frage hätte er den einen wie den anderen übertroffen, wenn er nicht in Lucca, sondern in Mazedonien oder Rom geboren worden wäre.[ 95 ]
    Dieses Lob ist zugleich ein Abgesang: Castuccio hat im Unterschied zu Philipp keinen Alexander gezeugt. Auch in seinem Fall reicht es – trotz aller «Korrekturen» an der geschichtlichen

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