Machiavelli: oder Die Kunst der Macht (German Edition)
Jahren untergegangenen römischen Republik genesen lassen?
Es ist nicht bekannt, was Leo X. und sein Vetter, Kardinal Giulio, von dieser Denkschrift hielten. Gewiss wird sie ihnen zu denken gegeben haben, zumindest was die Zuverlässigkeit des potentiellen Staatsdieners Machiavelli anging. Was die beiden führenden Medici von ihren Auftrags-Autoren erwarteten, war jedem Eingeweihten klar. Sie wollten schwarz auf weiß zu lesen bekommen, dass auch die beiden «Bastarde» regierungsfähig waren und dass die Macht der Familie nicht untergehen durfte, weil die Größe von Florenz damit untrennbar verknüpft war. Das muss auch Machiavelli gewusst haben. Dass er nicht schrieb, was die Empfänger des Memorandums lesen wollten, verdeutlicht nochmals seine Position in Florenz: Als Außenseiter stand er quer zu den Mächtigen und außerhalb aller einflussreichen Zirkel.
Im April 1520 hatte Battista della Palla, ein Patrizier aus dem Umkreis der Rucellai-Gärten, Machiavelli verheißungsvoll aus Rom geschrieben, er habe dessen Komödie La Mandragola dem Kardinal Colonna überreicht und das Stück stehe im Vatikan kurz vor der Aufführung. Überhaupt seien Leo X. und Kardinal Giulio Machiavelli gegenüber sehr wohlwollend eingestellt. Diese rosigen Zukunftsaussichten dürften sich mit der Vorlage der Denkschrift zerschlagen haben.
Das Leben des Castruccio Castracani
Aus Lucca brachte Machiavelli 1520 nicht nur vertiefte Einsichten in die Verfassung der dortigen Republik mit, sondern auch Material für eine historische Arbeit. Seine Recherchen galten Castruccio Castracani degli Antelminelli (1281–1328), der sich als Stadtherr von Lucca, als Sieger über Florenz und als erfolgreicher Eroberer in der ganzen Toskana einen Namen gemacht hatte. Als Steigbügelhalter Ludwigs des Bayern bei dessen Romzug und Kaiserkrönung hatte er über diesen regionalen Rahmen hinaus Spuren in der europäischen Geschichte hinterlassen. In Lucca selbst war Castruccio längst zur Legende und patriotischen Integrationsfigur geworden: Unter seiner Führung hatte Lucca die Florentiner besiegt und gedemütigt! Diese ruhmvolle Erinnerung pflegten die Luccheser Humanisten des 15. Jahrhunderts durch rühmende Biographien. Eine von diesen hatte Machiavelli im Gepäck. Sie diente ihm als Vorlage für sein eigenes Werk, das sich mit dem Titel Das Leben des Castruccio Castracani aus Lucca, beschrieben von Niccolò Machiavelli als Biographie im humanistischen Stil ausgibt.
Humanisten schrieben die Lebensgeschichten großer Männer, deren Ruhm sie durch Berichte von großen Taten und großen Tugenden verewigen wollten. Zugleich sollten solche Lebensbeschreibungen die kommenden Generationen dazu anzuspornen, sich dieser großen Vorbilder würdig zu erweisen. Ganz ähnlich klingt es bei Machiavelli:
Mir schien es lohnend, diese Lebensgeschichte der Erinnerung der Nachwelt zu erhalten, weil ich darin, was virtù und Fortuna betrifft, herausragende Exempel gefunden zu haben glaube.[ 84 ]
Die Frage, wie viel Macht über die Geschichte der blinde Zufall zum einen und die Tatkraft des Menschen zum anderen hatten, ließ Machiavelli nicht los. Die Antwort war zugleich ein Urteil über das eigene Scheitern. War er selbst daran schuld oder nicht? Das Widerspiel von virtù und fortuna in der Vita einer herausragenden historischen Persönlichkeit zu untersuchen dient also auch der Selbsterforschung. Darüber hinaus wird gleich zu Beginn eine weitere Parallele zwischen dem Helden der Geschichte und deren Verfasser herausgestellt:
Lieber Zanobi, lieber Luigi, es ist eine bemerkenswerte Sache, dass alle oder doch die allermeisten, die in dieser Welt große Dinge getan haben und unter ihren Zeitgenossen herausragen, kleine Anfänge aufweisen, von niedriger, obskurer Herkunft sind oder auch vom Schicksal kräftig gebeutelt wurden.[ 85 ]
Die beiden Widmungsträger, die hier als «allerbeste Freunde» nur mit dem Vornamen angeredet werden, waren die Patrizier Zanobi Buondelmonti und Luigi Alamanni. Das Lob der tatkräftigen Aufsteiger muss in deren Ohren befremdlich geklungen haben.
Und das war erst der Anfang. Schon nach wenigen Zeilen musste jedem Leser, der auch nur halbwegs mit der toskanischen Geschichte vertraut war, klar werden, dass Machiavelli andere Pfade als die humanistischen Historiker einschlug – um nicht zu sagen: auf Abwege abseits der historischen Wahrheit geriet. Denn er lässt seinen Helden auf originelle Weise in die Geschichte von Lucca eintreten.
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