Machiavelli: oder Die Kunst der Macht (German Edition)
Ciompi, der rechtlosen Wollarbeiter, ausbrach. Diese drängten nach wirtschaftlicher und politischer Gleichberechtigung. Sie forderten eine eigene Zunft, um sich in Lohnverhandlungen gegenüber ihren Arbeitgebern zu behaupten, und sie reklamierten ihren Anteil an den Ämtern der Republik. Das alles war laut Machiavelli nicht falsch, aber nicht genug. So legt er dem Anführer der Ciompi die folgende Brandrede in den Mund:
Ihr seht diese ganze Stadt voller Groll und Hass gegen uns … Wir müssen daher unbedingt zweierlei erwägen und nach zweierlei streben: Zum einen müssen wir dafür sorgen, dass wir für das, was wir in den letzten Tagen getan haben, nicht bestraft werden können. Zum anderen wollen wir in Zukunft mit mehr Freiheit und Zufriedenheit als zuvor leben können. Um die alten Gewalttaten in Vergessenheit geraten zu lassen, müssen wir daher, wie mir scheint, neue begehen. Ja, wir müssen die Verbrechen, die Brandschatzungen und Plünderungen um ein Vielfaches steigern und dabei möglichst viele Mittäter haben, denn wo viele die Gesetze übertreten, wird niemand belangt. Kleine Übertretungen werden bestraft, große und schwere Vergehen aber belohnt.[ 12 ]
Wer einen Aufstand wagt, so Machiavellis Botschaft, darf nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Nicht nur die Machtverhältnisse, sondern auch die Besitzverhältnisse müssen vollständig umgestoßen, oder besser: umgekehrt werden. Dabei braucht niemand Skrupel zu hegen:
Mich schmerzt sehr, dass viele das, was sie getan haben, bereuen und deshalb nichts Neues mehr wagen wollen. Wenn das stimmt, seid ihr nicht die Männer, für die ich euch gehalten habe. Denn weder Gewissen noch Schande dürfen euch schrecken. Denn wer siegt, egal wie, trägt niemals Schande davon. Und das Gewissen zählt für uns gar nicht. Denn wer von Hunger und Kerker bedroht ist wie wir, darf die Hölle nicht fürchten. Außerdem: Wenn ihr betrachtet, auf welche Weise die Menschen zu großem Reichtum und großer Macht gelangen, werdet ihr feststellen, dass ihnen das entweder durch Betrug oder durch Gewalt gelang. Und das, was sie durch Betrug oder durch Gewalt gewonnen haben, geben sie dann – um die hässliche Art des Gewinns zu verschleiern – als ehrenhaften Gewinn aus.[ 13 ]
Die Güter dieser Welt gehören laut Machiavelli denen, die dreist genug sind, zuzugreifen und sie sich anzueignen. Auf diese Hierarchie des unberechtigten Besitzes gründet sich alle Moral und alle Religion. Theologen und Philosophen rechtfertigen danach die dadurch geschaffenen Herrschafts- und Besitzverhältnisse; jede Philosophie und Theologie ist Ideologie zum Nutzen der Mächtigen. Diese Erkenntnis weist den Revolutionären, die nichts zu verlieren haben als ihr elendes Dasein, den Weg:
Und lasst euch durch das Alter des Blutes, das sie gegen uns ins Feld führen, nicht abschrecken. Denn alle Menschen haben einen Ursprung und sind daher gleich alt. Zudem hat die Natur alle Menschen gleich geschaffen. Zieht sie nackt aus, und ihr werdet sehen, dass sie wie wir sind. Ziehen wir uns ihre und ihnen unsere Kleider an. Dann sehen wir vornehm und sie schimpflich aus. Denn zwischen uns und ihnen gibt es nur den Unterschied zwischen Armut und Reichtum.[ 14 ]
Das sind fraglos Machiavellis ureigene Überzeugungen. Doch glaubten die Ciompi an die revolutionäre Predigt, die ihnen da gehalten wurde? Dass ihr Anführer ihnen so intensiv ins Gewissen reden musste, um ihnen das Gewissen auszureden, lässt ahnen, dass er keinen Erfolg hatte. Die Armen lebten weiterhin in ehrfürchtiger Scheu vor den Patriziern, die sie für höhere Menschen hielten. Erst wenn dieser Irrglaube beseitigt ist, kann die Totalrevolution gelingen.
Machiavelli diagnostiziert hier hellsichtig, worauf sich die Herrschaft der großen Familien und speziell der Medici gründete: auf das Sozialprestige, das sie durch ihre prunkvollen Paläste, ihre kostbare Kleidung und ihren aufwendigen Lebensstil gewonnen hatten. Dadurch verbargen sie, dass sie auf dieses süße Leben und auf die Ämter der Republik keinerlei moralischen Anspruch erheben konnten, denn diese – so lautete auch hier Machiavellis republikanisches Credo – erwirbt man in einem wohlgeordneten Staatswesen nicht durch ererbten Reichtum und eine angeblich verfeinerte Lebensart, sondern nur durch virtù, Tatkraft gepaart mit Einsicht und Kühnheit. Das alles besaß der Anführer der Ciompi, der sich damit als uomo virtuoso empfahl. Doch leider bekam er keine Gelegenheit, diese
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