Machiavelli: oder Die Kunst der Macht (German Edition)
zugedachte Poem mit Abstand das kürzeste, und zwar aus gutem Grund:
Und du, während du durch Sprechen deine Zeit verschwendest
und von vielen überflüssigen Sorgen beschwert bist,
wirst leider nicht gewahr und verstehst nicht,
dass ich dir soeben zwischen den Händen entschwunden bin.[ 44 ]
Das war ein witziger literarischer Kunstgriff: Während der Dichter die personifizierte Gelegenheit (occasione) nach ihren Eigenschaften befragt, und zwar so schwerfällig, wie es Gelehrte zu tun pflegen, ist sie ihm bereits entflohen. Über die Gelegenheit redet man nicht, man ergreift sie! So lautet die Nutzanwendung:
Ich bin Gelegenheit, wenigen bekannt,
und der Grund dafür, dass ich niemals raste,
ist der, dass ich einen Fuß auf dem Rad halte.[ 45 ]
Zudem sind ihre Füße geflügelt. Damit bewegt sie sich schneller als die Vögel. Ihre Haare trägt sie vor der Brust und vor dem Haupt. Ihr Hinterkopf aber ist kahl, so dass sie niemand, an dem sie vorbei geflogen ist, an den Haaren packen kann. Und wer ist ihre Gefährtin?
Reue heißt sie; drum merke wohl:
Wer mich nicht fängt, der behält sie.[ 46 ]
Ein Gedicht über die Reue hat Machiavelli nicht verfasst, das wäre einem Schuldeingeständnis gleichgekommen. Stattdessen schrieb er 187 Verse «Über die Undankbarkeit». Auch hier ist der persönliche Bezug unübersehbar:
Durch dieses Gedicht will ich aus dem Herzen reißen
oder zumindest mildern den Schmerz über das Unglück,
der in mir tobt und wütet.[ 47 ]
Auch diese politische Abhandlung kleidet sich mythologisch ein:
Als den Sternen, als dem Himmel
der Ruhm der Lebenden missfiel, da ward zu ihrer Schande
Undankbarkeit in der Welt geboren.[ 48 ]
Alles Übel kommt von oben. Diesem poetischen Konzept, das er im Lehrgedicht über den Ehrgeiz entwickelt hatte, blieb Machiavelli auch in seiner gereimten Abhandlung über die Undankbarkeit treu. Alle christlichen Erklärungen, warum das Böse in die Welt gekommen ist und wie es sich überwinden lässt, werden vollständig ignoriert. Die zerstörerischen Kräfte sind auf den Menschen losgelassen, ob auf Anordnung der Götter oder als Folge ihrer Schwäche und Nachlässigkeit, bleibt offen und ist letztlich auch ohne Bedeutung. Die Welt ist nun einmal so und nicht zu ändern. Erlösung führt nicht aus dieser Welt heraus, sondern ist nur innerweltlich und das heißt: auf Kosten der anderen zu haben. Schutz vor den Ränken Fortunas und ihrer widrigen Gefährtinnen bietet nur der perfekte Staat; dieser aber muss erobern und unterjochen, um stark zu bleiben.
Im Gegensatz zu Fortuna, deren Herkunft im Dunkeln blieb, sind die Eltern der Undankbarkeit laut Machiavelli bekannt. Sie heißen Geiz und Verdacht, ihre Amme ist der Neid, ihre Heimat der fürstliche Hof, doch hat sie sich von dort aus sämtliche Lebensräume des Menschen erobert. In ihrem Köcher hat sie drei Giftpfeile, mit denen sie das menschliche Herz durchbohrt:
Der erste der drei, den sie verschießt, macht,
dass der Mensch allein die Wohltat nennt,
doch keinen Dank dafür ausspricht.
Der zweite Pfeil wiederum macht,
dass der Mensch die Wohltat vergisst,
doch sie nur leugnet, ohne zu lästern.
Der letzte Pfeil aber hat zur Folge,
dass der Mensch das Gute nicht nennt und auch nicht lobt,
dafür aber den Wohltäter selbst kränkt und verletzt.[ 49 ]
Auf ihrem Weg vom Hof in die übrige Welt hat die Undankbarkeit einen neuen Lieblingsort entdeckt: die Republik. Selbst im antiken Rom, wo doch die höchste Konzentration von virtù in der Geschichte erreicht war, konnte sie sich unbehindert ausbreiten. Denn gerade dort gab es große Männer, die sich wie Scipio Africanus maior uneigennützig um den Staat verdient gemacht hatten und daher zum bevorzugten Objekt ihrer Tücke wurden. Von ihrer Amme, dem Neid, kräftig gesäugt, bringt die Undankbarkeit unter den missgünstigen Konkurrenten Intrigen und im leichtgläubigen Volk Argwohn hervor, womit der Sturz der Helden unabwendbar wird.
Nach der langen Galerie verfolgter republikanischer Unschuld wendet sich die pessimistische Verserzählung plötzlich der Gegenwart zu:
Achmet Pascha, der Bajazit
die Herrschaft verschafft hatte, wurde nicht lange danach
mit dem Tuch um den Hals erwürgt gefunden.
Und Apulien hat zurückgelassen
Consalvo, der seinem König als verdächtig gilt,
zum Dank dafür, dass er die Franzosen besiegt hat.[ 50 ]
Die drei letzten Zeilen zeigen, wie Machiavelli historische Stoffe behandelte, nämlich frei – um es vorsichtig zu sagen. Consalvo
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