Machiavelli: oder Die Kunst der Macht (German Edition)
Mann für jede politische Jahreszeit. Er machte Routinepolitik für Routinezeiten, als längst ganz andere Qualitäten gefordert waren, nämlich die Tatkraft und Entschlossenheit des Strategen. Dass der gestürzte gonfaloniere sich mit dieser Unfähigkeit, die Erfordernisse des Zeitgeistes zu erkennen, in der Gesellschaft des Durchschnittsmenschen befand, war kein Trost, sondern purer Hohn. Denn die Devise des erfolgreichen Politikers lautete, wie Machiavelli einige Zeilen zuvor feststellte:
Das Glück versuchen, das den Jungen hold ist, und sich je nachdem, wie man es findet, verändern. Entweder hat man Festungen oder nicht, entweder ist man grausam oder fromm.[ 34 ]
Wie man im Einzelnen vorgeht, darüber muss man nach Prüfung der Situation entscheiden. Eine solche Flexibilität hätte laut Machiavelli die Republik Florenz retten können, doch diese Einsicht war Soderini nicht vergönnt. Obwohl Machiavelli beteuerte, den gestürzten gonfaloniere nicht verurteilen zu wollen, verdammte er ihn unwiderruflich. Denn Soderini war kein Fürst, der einsame Beschlüsse fasste, sondern das Staatsoberhaupt einer Republik. In einem Freistaat aber waren Menschen aller Wesensart in Ämtern und Gremien vertreten, mit anderen Worten: Der Rat derjenigen, die von anderer Wesensart waren und die die Dinge daher anders sahen, hätte Soderini helfen können, über den eigenen Schatten zu springen. Doch unter ihm galt das Motto:
Niemanden beraten, von niemandem Rat annehmen, außer vom Großen Rat. Möge jeder tun, was ihm sein Sinn und seine Kühnheit befehlen.[ 35 ]
Damit war der Weg in den Untergang gebahnt. Für Machiavelli hatte auch diese Katastrophe ein Gutes, nämlich Erkenntnisgewinn:
Einem neuen Herrscher verschafft Grausamkeit, Hinterlist und Unglaube Ansehen in einem Land, wo Menschlichkeit, Ehrlichkeit und Religion seit langem aufgegeben sind. Umgekehrt gilt, dass Menschlichkeit, Ehrlichkeit und Religion dort nützen, wo Grausamkeit, Hinterlist und Unglaube nur eine Zeitlang herrschten. Denn so wie die bitteren Dinge den Geschmack stören und die süßen Sachen ihn anekeln, so bekommen die Menschen das Gute leid, während sie sich über das Böse beklagen.[ 36 ]
In der Politik gibt es mit anderen Worten keine immer und überall gültigen Tugenden. Der Erfolg allein entscheidet, welche Mittel angebracht sind und welche nicht. Wenn Menschen seit langem an den Terror einer Diktatur gewöhnt sind, muss ein milder Herrscher untergehen, denn seine Untertanen verstehen nur die Sprache der Gewalt. In diesem Fall ist die Beherrschung des Bösen die Voraussetzung dafür, die Verhältnisse zu wandeln. Einem Herrscher, der grausam regiert, um die Menschen dadurch an neue, bessere und humane Gesetze zu gewöhnen, gebührt kein Vorwurf, sondern Lob. Die traditionelle Moral der Milde, Güte, Standhaftigkeit, Mäßigung und Gerechtigkeit, die die Kirche die Mächtigen lehrt, ist daher als starres Regelwerk für die Politik untauglich. Das schließt ihre Eignung für bestimmte Lagen nicht aus, zum Beispiel für ein Land, in dem die Erinnerung an einen menschlichen Herrscher noch fortlebt. Mit diesen Gedankengängen hatte Machiavelli eine Umwertung der moralischen Werte begonnen, die bereits wenige Monate später zum Abschluss gelangen sollte.
Machiavellis Urteil über Soderini stand damit fest:
In der Nacht, in der Piero Soderini starb,
wanderte seine Seele zum Einlass der Hölle.
Pluto aber schrie: Was willst du hier drinnen? Dumme Seele,
geh hinauf in den Limbus, zu den anderen Kindern.[ 37 ]
Zehn Jahre nach dem unrühmlichen Auszug des gonfaloniere aus Florenz schrieb ihm Machiavelli diesen unversöhnlichen Nachruf. Frömmler kommen laut Machiavelli in den Himmel, tatkräftige Politiker hingegen in die Hölle. Für Soderini ist unter den Mutigen und Starken der Unterwelt jedoch kein Ehrenplatz reserviert, er wandert in den Limbus, wo die Seelen der ungetauften Christenkinder weilen. Für Machiavelli schrumpfte sein ehemaliger Vorgesetzter im Rückblick zu einer schattenhaften Gestalt, die die Zeichen der Zeit nicht verstanden hatte. Diese Kritik war einigermaßen selbstgerecht. Gewiss, Soderini wiegte sich bis zum Schluss in Illusionen und ließ am Ende die von Machiavelli geforderte virtù – Tapferkeit gepaart mit Entschlusskraft und Weitblick – vermissen. Doch ersparte er Florenz durch seinen lautlosen Abgang ein Blutbad. Zudem hatte ihm der Gesandte Machiavelli selbst zur Anlehnung an Frankreich geraten, die den Untergang
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