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Macho Man: Roman (German Edition)

Macho Man: Roman (German Edition)

Titel: Macho Man: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Netenjakob
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Idioten!
    Der Schiedsrichter pfeift nicht nur das Spiel an, sondern auch einen Orkan der Schimpftiraden. Wer behauptet, dass türkische Männer nicht emotional sein können, der sollte unbedingt mit ihnen Fußball gucken. Da wird gewütet, geschimpft, gefleht, gebetet, verflucht, angefeuert, getrauert und gejubelt. Selbst wenn ein Schwabe sein gesamtes Vermögen auf Trabzonspor gesetzt hätte, könnte ihn das nicht zu solchen Gefühlsausbrüchen verleiten. Und das Interessanteste ist: Es steckt an! Dieser Verein war mir bis vor ein paar Minuten völlig gleichgültig, und plötzlich zittere ich mit – als hinge mein Lebensglück davon ab, dass Trabzonspor Galatasaray schlägt.
    Die erste Halbzeit endet torlos, in der zweiten geht das Spiel hin und her. Es ist richtig viel Tempo und Leidenschaft drin, und die Emotionen im Karadeniz-Café drohen überzukochen. Ab der 70. Minute hält Aylins Vater es nicht mehr aus. Er steht auf und pilgert im Raum auf und ab, wirft nur noch einen gelegentlichen Blick auf den Fernseher. Er ist nicht der Einzige, der eine Herzattacke fürchtet. Die Tür wurde mittlerweile geöffnet, und drei Männer stehen fix und fertig mit dem Rücken zum Fernseher draußen und schnappen nach Luft. Im Café haben sich die meisten heiser gebrüllt. Einige Teegläser mussten schon dran glauben, und bei einer vergebenen Großchance von Trabzonspor schlägt der Mann vor mir so heftig auf den Tisch, dass sich mit einem lauten Krachen ein Tischbein verabschiedet und alles auf demBoden landet. Der Mann hält sich die Hand, die zumindest angebrochen sein muss – was ihn aber nicht daran hindert, den Tisch zu beschimpfen und mit der gesunden Hand auf den Nachbartisch zu trommeln.
    Dann die Erlösung: In der 88. Minute kommt eine halbhohe Flanke von rechts, Flugkopfball, 1:0 für Trabzonspor. Ich habe ja schon mehrere türkische Jubelorgien erlebt, aber was jetzt im Karadeniz-Café abgeht, ist mit nichts zu vergleichen, was mir in meinem bisherigen Leben widerfahren ist. Wenn die Türken im 16. Jahrhundert mit dieser Energie auf Wien zugerannt wären – ich bin sicher, sie hätten es erobert. Und wahrscheinlich wären sie noch weiter bis Portugal gerannt und anschließend nach Kanada geschwommen. Selbst die Heisersten der Männer holen Töne aus sich heraus, um die sie jede Oper der Welt beneiden würde. Rein optisch kommt das Ganze einer Massenschlägerei gleich: Es wird geschlagen, geschubst, gestoßen, erdrückt, geschüttelt und geboxt – und ich bin mittendrin.
    Meine Schultern habe ich längst aufgegeben, sie sind mir auch egal, Trabzonspor hat ein Tor geschossen, mein Verein!!! Mein Verein??? Ja, mein Verein. Der 1. FC Köln hat doch keinen Anspruch auf Alleinherrschaft. Das haben sie jetzt davon, dass sie ihren Geißbock kastriert haben. Jetzt habe ich einen zweiten Verein, und der hat keinen eierlosen Paarhufer als Maskottchen, sondern das Meer und Tee – das sind doch mal Symbole. Symbole für ... äh ... ja gut, äh.
    Als ich gerade darüber nachdenke, ob Tee nicht auch etwas weicheimäßig rüberkommt oder ob türkischer Tee ein echtes Männergetränk ist, weil der ja stärker getrunken wird, pfeift der Schiedsrichter das Spiel ab. Trabzonspor hat gewonnen. Ich habe gedacht, die Emotionen nach dem Tor sind nicht zu toppen. Ich habe mich getäuscht. Das Einzige, das dem Eindruck, der sich mir hier bietet, ansatzweise nahekommt, ist die finale Schlacht in Herr der Ringe, als die Armee der Untoten bei Minas Tirith das Heer der Orks zerschmettert. Ich mache mir ernsthafte Sorgen, dass sich diese Männer vor Freude umbringen – und vor allem: dass sie mich umbringen. Ich werde willenlos durch den Raum geschleudert, pralle irgendwie gegen die Theke und werde dortvon einem weißhaarigen Mann mit großem Schnurrbart, den ich nicht kenne, an beiden Schultern gepackt und heftiger geschüttelt als in einer Achterbahn mit Vierfach-Looping. Kurz vor einer Gehirnerschütterung merke ich, dass ich etwas tun muss – ich packe ihn auch an den Schultern und schüttele zurück; so gleicht sich die Wucht irgendwie aus. Jetzt habe ich Blut geleckt und schüttle auch andere türkische Männer, die ich nicht kenne. Und ich brülle. Und schlage. Es ist das Archaischste, was ich je gemacht habe – und es tut unheimlich gut. Nicht, dass wir Deutschen so etwas nie machen würden. Aber wir nennen es Urschreitherapie und lassen es von der Krankenkasse bezahlen ... Kein Wunder, dass unser Gesundheitssystem nicht

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