Mach's falsch, und du machst es richtig
wie sich ein ehemaliger Straßenkämpfer in einen erfolgreichen Außenminister verwandelte (Joschka Fischer), eine kämpferische Feministin in die Autorin eines antifeministischen Boulevardblatts (Alice Schwarzer) und ein gefürchteter Hacker, der Dutzende Male in das Computernetzwerk des Pentagons und des amerikanischen Militärnachrichtendienstes NAS eingedrungen war, in den Eigentümer einer angesehenen Beratungsfirma für Computersicherheit (Kevin Mitnick) [61] .
Übertreiben Sie es nicht! Und wenn doch, bewußt: Wer Regeln verletzt, um damit etwas Bestimmtes zu erreichen, sollte sich darüber im klaren sein, daß er aus dem Regelverletzen keine Regel machen darf. Vielmehr sollte sie die Ausnahme von der Regel bleiben. Machen wir hingegen die Regelverletzung zur Gewohnheit, setzen wir jenen Mechanismus in Gang, den wir weiter oben kennengelernt haben: Es wäre zuviel des Guten. Die Regelverletzung wird nicht nur selbst zur Regel und verliert auf diese Weise ihren Überraschungseffekt und ihre Sprengkraft. Sie bringt auch das ganze sorgsam ausbalancierte System zum Einsturz, indem sie der Regelverletzung ihre Basis entzieht. Wo sich niemand mehr an die Regel hält, verliert deren Übertretung ihren Sinn. Wir können natürlich eine neue Regelverletzungsregel aufstellen, müssen uns dann aber bewußt sein, daß von da an eine wirkliche Regelverletzung darin besteht, die Regelverletzungsregel zu verletzen – also sich an die Regeln zu halten bzw. die Regeln von neuem zu etablieren. Doch bevor es zu kompliziert wird, beherzigen Sie einfach den Ratschlag, es nicht zu übertreiben.
Fragen Sie nach Dingen, die Sie nicht erfahren wollen: Das Problem vieler Interviews und Gespräche besteht darin, daß die Beteiligten Übung haben, sie zu führen. Daß wir also auf die Frage, wie es uns gehe, antworten, was wir zu antworten gelernt haben: «Gut, danke. Und dir?» Diese Unverbindlichkeit und Knappheit hat nichts damit zu tun, daß wir unehrlich wären oder unfreundlich. Vielmehr ist daran die Gewohnheit schuld, uns die Dinge möglichst einfach zu machen – angesichts der Tatsache, daß wir am Tag mindestens ein dutzendmal gefragt werden, wie es um unser Seelenheil bestellt sei, eine mehr als nachvollziehbare Reaktion. Ganz davon zu schweigen, daß eine ehrliche Antwort die allermeisten der Fragenden ohnehin nichts angeht bzw. irritieren würde. Unsere Kommunikation wird von Routinen bestimmt. Vor allem gilt das für Menschen, die den ganzen Tag danach gefragt werden, was sie tun und denken und meinen. Politiker und Top-Manager zum Beispiel. Nicht nur, daß sie im Zweifel jede Frage schon tausendfach gehört haben, hat jede ihrer Antworten das Zeug dazu, für öffentlichen Wirbel zu sorgen. Weil man sie falsch verstanden oder zitiert hat, weil sie Blödsinn geredet haben, weil der Journalist einen schlechten Tag hatte oder alles zusammen. Als wohl bekanntestes Beispiel kann das Interview mit dem damaligen Chef der Deutschen Bank, Rolf Breuer, gelten; der hatte Anfang Februar 2002 in einem
einzigen
Satz an der Kreditwürdigkeit des Medienunternehmers Leo Kirch gezweifelt. Das Ergebnis: der Zusammenbruch des Unternehmens.
Das bedeutet: Interviews mit Politikern und Top-Managern
müssen
nichtssagend sein, weil sie im Grenzgebiet zwischen nervtötender Routine und politischer Brisanz stattfinden. Eine Situation, in der man eindeutig mehr falsch als richtig machen kann, weshalb Vorsicht angebracht ist. Nicht ganz so brisant gestalten sich Gespräche in Partnerschaften, aber auch hier bilden sich über die Jahre klare Konventionen aus, Regeln, wie wir in bestimmten Situationen antworten und agieren. So wissen wir zum Beispiel, mit welchen Halbsätzen wir den anderen kränken, besänftigen, ablenken oder zum Schweigen bringen können. Und wir verfügen über einen stetig wachsenden Schatz an gemeinsamen Erinnerungen und Sprachregelungen, die wir für unsere Zwecke einsetzen können. Es gehört zur Dynamik lang andauernder Beziehungen, daß wir all jene Fragen und Feststellungen auszumustern beginnen, die die Basis der Beziehung erschüttern könnten. Diesen Gewinn an Sicherheit erkaufen wir freilich damit, daß der andere für uns berechenbarer und eindimensionaler wird.
Wollen wir als Journalisten oder langjährige Lebensgefährten dennoch etwas Interessantes in Erfahrung bringen, müssen wir uns etwas einfallen lassen. Wie wäre es, wenn Sie Ihr Gegenüber zu Beginn Ihres nächsten Gesprächs nach Dingen fragen, die Sie
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