Mach's falsch, und du machst es richtig
Gebrauchsanweisung gelesen.»
Anstatt also das Buch so zu verstehen, wie es eigentlich gemeint war – als Aufforderung, endlich Schluß zu machen mit den Zuständen an der New Yorker Börse –, machten einige Studenten kurzerhand das Gegenteil daraus: ein Handbuch, das ihnen zeigen sollte, wie man sich auf Kosten anderer in möglichst kurzer Zeit bereichert; und wie man es anstellt, dabei nicht erwischt zu werden. Das einzige, was sie an Lewis’ Schilderungen auszusetzen hatten, war der Umstand, daß sie sich nicht problemlos in praktische Tips übersetzen ließen.
Selbst wer die Geschichte großer Skandale und die Mechanik menschlicher Abgründe beschreibt, kann sich also nicht darauf verlassen, daß sie im richtigen Sinne verstanden werden. Er ist auf die moralische Haltung seiner Leser ebenso angewiesen wie auf die Kontexte, in denen er ihnen begegnet, und die Bereitschaft des Empfängers, sie in seinem Sinne umzudeuten. Die einen werden die detailreichen Panoramen menschlicher Verfehlungen als Warnung verstehen und als Aufforderung, etwas zu ändern; die anderen als Anleitung, wie man sich zu verhalten hat, wenn man ähnliches plant – wie das die jungen Studenten getan haben, denen offensichtlich das Bewußtsein dafür fehlte, wie zweifelhaft ihre Bitte nach weiteren Details war. «Wenn Lewis irgendeine Art von Aufklärung beabsichtigt hatte», schreibt Staun daher, «war ihre Dialektik verheerend.» Das war sie, zweifellos.
Doch wir können die Gründe dafür, was unsere Texte in den Köpfen der Menschen anstellen, nicht ausschließlich bei den Lesern suchen. Es stimmt zwar, daß wir Schwierigkeiten damit haben, negierte Aussagen richtig zu dekodieren, so daß diese sich in ihr Gegenteil verkehren können. Und es stimmt, daß wir keinen Einfluß darauf haben, in welcher Situation einem Leser unser Buch in die Hände fällt und was er damit anstellt. Aber daß aus einem Buch wie «Wall Street Poker» eine «Gebrauchsanweisung» werden kann, dazu ist auch ein geeigneter Autor nötig. Ein Autor, der ein abstraktes Thema schlüssig darzustellen weiß und es solcherart überhaupt erst verständlich macht; der es anschließend in die Öffentlichkeit trägt und auf diese Weise dafür sorgt, daß es das Denken der Menschen beschäftigen kann. Marcel Reich-Ranicki hat diesen vertrackten Kreisverkehr von Kritiker und Publikum auf den Punkt gebracht, als er anläßlich der Präsentation seiner Biographie sagte: Seiner Ansicht nach sollte Literaturkritik das Publikum erziehen, es also davon abhalten, die falschen Bücher zu lesen. Doch zu seinem Bedauern habe er immer wieder feststellen müssen, daß seine Verrisse das genaue Gegenteil bewirkt hätten: «Man trägt dann also dazu bei, dem Buch, das man ablehnt, viele Leser zu verschaffen.» [99]
Wir können also die Kritiker nicht aus der Verantwortung entlassen. Schon allein deshalb, weil sie dafür sorgen, Menschen mit einem Thema bekannt zu machen, von dem sie bisher unter Umständen nichts gewußt haben. Doch viele Autoren tun noch deutlich mehr, um ihre Leser für den Gegenstand ihrer Kritik einzunehmen – ob nun bewußt oder unbewußt. Da sie sich bereits länger mit ihrem Thema beschäftigen und es in einer Weise darstellen wollen, die es für Außenstehende interessant macht, schildern sie es meist auf emotionale Weise. Die Autoren erzählen eingängige Geschichten, mit denen wir uns identifizieren können; sie schaffen eine Dramaturgie, die aus einem Report über die Machenschaften an der Börse eine Abenteuergeschichte macht, der man sich nicht entziehen kann. Dabei spielt es keine große Rolle, ob die Autoren diese Story unter positivem oder negativem Vorzeichen schildern, ob sie also eine Heldengeschichte oder eine Anti-Heldengeschichte erzählen. Sie bleibt ein Abenteuer mit einem heroischen Ich im Zentrum. Im Vorwort von Michael Lewis können wir diese Art der Heroisierung und Dramatisierung sehr schön beobachten, schreibt er doch: «Ich habe die hektische Atmosphäre eines modernen Goldrausches miterlebt. Niemals zuvor haben so viele so unerfahrene 24 jährige in so wenig Zeit so viel Geld verdient wie wir in diesem Jahrzehnt in New York und London. Niemals zuvor gab es zu dem Marktgesetz, daß jemand nicht mehr herausbekommen wird, als er hineingibt, derart phantastische Ausnahmen.» Na, wenn
das
keine Schilderung ist, der man die ehemaligen Euphorien des Autors noch in jedem Wort anmerkt? Und wenn
das
keine Sätze sind, die sich bestens dazu
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