Mach's falsch, und du machst es richtig
Faches sind: Schon «Toy Story» und «Monster AG » wurden begeistert aufgenommen. In diesem Konzert wohlbekannter Verhaltensweisen gibt es nur ein Detail, das irritierend wirkt. Um diese Irritation in ihrer ganzen Tragweite zu verstehen, sollten wir uns die zentrale Botschaft des Films noch einmal kurz ins Gedächtnis rufen. Sie lautet: Die Freiheit ist unser höchstes Gut. Wer sie uns nimmt, der ist böse. Und geht sie verloren, dann sind wir aufgerufen, alles zu unternehmen, um sie wiederzuerlangen.
Es wäre also verständlich gewesen, hätten die Menschen nach dem Kinobesuch «Free Nemo!»-Gruppen gegründet, «Aquarien, nein danke!»-Aufkleber drucken lassen oder die öffentlichen Zoohandlungen gestürmt, um die gefangen gehaltenen Zierfische zu befreien. Doch es geschah etwas anderes. So berichtete die
FAZ
vom 18 . November 2003 bereits vor der Premiere des Films in Deutschland, «Nemo» habe einen «Ansturm auf Tropenfische» ausgelöst und «die Nachfrage nach bunten Tropenfischen in die Höhe schnellen» lassen. Der Erfolg des Films mache «der Unterwasserwelt des Inselstaats Vanuatu zu schaffen. Die Riffe des Südsee-Archipels leeren sich zusehends». Während es nämlich in Australien Fangquoten für Clown- und andere Anemonenfische gibt, dürfen sie in Vanuatu unbeschränkt aus dem Meer geholt werden.
Keine Rede davon, daß sich die Hysterie rund um Nemo binnen weniger Wochen wieder gelegt hätte. Vielmehr zeigten Untersuchungen von Meeresbiologen, daß die Geschichte vom kleinen (fiktiven) Clownfisch zu einem ernsten Problem für dessen (reale) Artgenossen geworden ist: Fünf Jahre nach dem Kinostart habe sich in einigen Meeresgebieten der Bestand an Clownfischen um 75 Prozent verringert, werden Meeresbiologen zitiert. Und der Molekularbiologe Billy Sinclair von der britischen Universität Cumbria gab bekannt [94] , daß die Zahl der Clownfische binnen zwei Jahren an manchen Riffen um 76 Prozent gefallen sei. Er muß es wissen – hat er doch fünf Jahre damit verbracht, in den Riffen von Australien das Leben von Clownfischen zu studieren. So ist es nicht weiter verwunderlich, daß Sinclair eine flehentliche Botschaft «an Kinder, die den Film lieben» richtet: «Sagt euren Eltern, sie mögen Nemo im Meer lassen, wo er hingehört.» Diese Nachricht freilich scheint sich im Kopf der Eltern in ihr Gegenteil verkehrt zu haben. Genauso wie jene von Nemo.
Wir sind davon überzeugt, durch unsere Kritiken klare Aussagen zu treffen. Doch immer wieder müssen wir feststellen, daß Menschen sie vollkommen anders verstehen.
Wenn das nicht paradox ist. Da sehen wir 96 Minuten lang einem Haufen armer Zierfische dabei zu, wie sie verbissen um ihre Freiheit kämpfen, leiden mit ihnen, freuen uns schließlich für sie, daß sie unsereins entkommen. Nur um anschließend in eine Zoohandlung zu gehen und einen Clownfisch zu kaufen, den man aus ebenjenen australischen Riffen entführt hat, in die Nemo unbedingt zurückwill. Und zu allem Überfluß sperren wir unseren armen Nemo auch noch in eines jener Aquarien, die für ihn die Hölle sind. Die Macher von Nemo dürften sich gewundert haben, was sie da angerichtet haben, denn daß ihr Film wie eine höchst erfolgreiche PR -Kampagne für Zierfischhändler und Aquarienhersteller wirkte, dürften sie nicht bedacht haben. Und auch nicht beabsichtigt. Man könnte meinen, das Epos über die Freiheit der Clownfische führte dazu, daß sie ihnen genommen wurde.
Verkehrte Welt, angesichts derer wir nur den Kopf schütteln können – oder uns auf die Suche nach einer Antwort machen, die uns erklärt, wie sich die offensichtliche Kritik an einem bestimmten Verhalten der Menschen in dessen Gegenteil verkehren kann. Das gute daran: Wir müssen bei der Suche nicht bei Null beginnen, sondern können auf ein Thema verweisen, das uns in diesem Buch immer wieder beschäftigen wird: unsere Ambivalenzen. Die spielen nicht nur im Zusammenhang mit unseren Gefühlen eine wichtige Rolle, wie wir sehen werden, sondern auch in unserer Kommunikation. Ob wir verstehen, was ein anderer sagt, hängt nämlich nicht nur davon ab, ob er die richtigen Worte findet, sondern noch von einigem mehr – und zwar von
soviel
mehr, daß es an ein Wunder grenzt, daß wir uns überhaupt verstehen. So spielt der konkrete Zusammenhang, in dem der andere etwas sagt, eine ebenso wichtige Rolle wie der Zeitpunkt. Und nicht nur das: Auch die von uns verwendeten Begriffe sind weit davon entfernt, eindeutig zu
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