Mach's falsch, und du machst es richtig
entsprach der Wirbel um Robert Enke dem schlimmstmöglichen Fall. Denn je prominenter und sympathischer der Hauptdarsteller einer flächendeckend publizierten Suizid-Geschichte sei, desto stärker werde der Sog, den sie entwickle. Er werde auch für Menschen zum Vorbild, die weder mit Fußball noch mit der konkreten Person viel anzufangen wüßten: «Man muss sich noch nicht einmal mit dem Menschen identifizieren können, um seine Tat nachzuahmen», sagt Ladwig. Und weiter heißt es in dem Artikel: «Es genügt, dass sich durch Medienberichte die Methode oder der Ort des Suizids im kollektiven Bewusstsein festsetzen. Bei der Golden Gate Bridge in San Francisco ist das so: Menschen aus der ganzen Welt reisen dorthin, um sich in den Tod zu stürzen, obwohl sie auf dem Weg dahin zahllose andere Brücken überqueren.» Und genau so war es auch bei Enke. Kaum hatte er sich vor den Zug geworfen, wurde das Vordenzugwerfen eine Zeitlang zur tragischen Mode. Was die Menschen dazu bringt, einen solchen «copycat suicide» zu begehen, wie das auf englisch genannt wird, also einen Nachahmungsselbstmord – das ist noch nicht restlos geklärt. Es wird sich wohl auch nie abschließend klären lassen. Zu vielfältig sind die Motive der Menschen, zu verschieden die konkreten Situationen, die sie ihren tragischen Entschluß fällen lassen. Auf vier Erklärungsansätze seien sie bei ihren Recherchen immer wieder gestoßen, schreiben Hegerl und Ziegler in dem erwähnten Aufsatz: Imitation, Suggestion, Enthemmung und Ansteckung. So verschieden die Studien auch seien, auf eine These kamen sie immer wieder zurück: Wer sich töte, nachdem er vom Selbstmord eines anderen gehört oder gelesen habe, der tue das, weil er sich von dem Vorbild habe anstecken lassen.
Wie schwierig es auch sein mag, die individuellen Ursachen für einen Selbstmord eindeutig zu klären – die Wirkung einschlägiger Medienberichte steht außer Zweifel. Das Phänomen ist mittlerweile so gut erforscht, daß wir mühelos vorhersagen können, was geschieht, wenn Journalisten das Schicksal von Menschen wie Robert Enke in epischer Breite schildern: Kaum publiziert, steigt die Zahl der Selbstmorde markant. Seit der «bahnbrechenden Studie des amerikanischen Soziologen Phillips» [103] aus dem Jahr 1974 gilt das als belegt und kann niemanden überraschen. Überraschend ist vielmehr etwas anderes: daß es immer noch Journalisten gibt, die glauben, lange Reportagen über einen Selbstmord schreiben zu müssen. Was wollen sie damit erreichen, fragt man sich da? Was verstehen sie am Doppelcharakter solcher Berichte nicht?
Was die trotz aller Vorbehalte weiter erscheinenden Berichte über Selbstmorde noch unverständlicher macht, ist der Umstand, daß es seit vielen Jahren klare Empfehlungen gibt, wie Journalisten das Thema am besten behandeln sollten. Hegerl und Ziegler haben sie in ihrem Aufsatz über den Werther-Effekt formuliert: «Beschreibe den Suizidenten, die Methode, den Ort, die Lebensverhältnisse und die Gründe so abstrakt, daß sie kein Anschauungsmaterial mehr enthalten, das einer möglichen Identifikation und Enthemmung Vorschub leisten könnte!» Man sollte meinen, daß das eindeutig genug ist. Offensichtlich nicht eindeutig genug für Journalisten wie jene vom
Spiegel
, die am 16 . November 2009 , sechs Tage nach dem Selbstmord, eine Titelgeschichte publizierten, die sich «Die Angst vor dem Leben. Der Fall Robert Enke: Was Menschen den Halt verlieren lässt» nannte. Darin konnten wir Sätze lesen, die klingen, als wollten sie die Warnungen von Hegerl und Ziegler verhöhnen: «Robert Enke – ein Baum von einem Mann, ein Vielgeliebter, brilliert im Tor, wie immer. Und zwei Tage später läßt er sich von einem Zug überrollen. Und im ganzen Land begreifen Menschen auf einmal, welche Verwüstungen die Krankheit Depression in der Seele eines Menschen anrichten kann. Sie sind erschrocken darüber, welche Wucht sie hat. Sie fragen sich, welch mächtiger Schatten sich über einen Menschen legen muss, wenn der Schub kommt. Und wie es sein kann, dass nicht mal einer wie Enke sich dagegen wehren kann.»
Es gehört zu den großen Qualitäten des zitierten Aufsatzes, daß Hegerl und Ziegler auch jene Paradoxie thematisieren, die ihre Forderungen heraufbeschwören: «Eine suizidpräventive Berichterstattung steht im krassen Gegensatz zu journalistischen Grundregeln. Sollte daher aus journalistischer und medizinischer Sicht nicht komplett auf die
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