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Mach's falsch, und du machst es richtig

Mach's falsch, und du machst es richtig

Titel: Mach's falsch, und du machst es richtig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ankowitsch
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Suizidberichterstattung verzichtet werden?» Eine gute Frage, zweifellos. Denn was bei der Darstellung von Selbstmördern zu beobachten ist, das gilt laut Herbert Scheithauer auch für Amokläufer. Der Psychologe hat sich in einem Forschungsprojekt mit all den Fragen beschäftigt, die sich im Zusammenhang mit Ereignissen wie jenen von Winnenden ergeben haben: Am Vormittag des 11 . März 2009 hatte ein ehemaliger Schüler der Albertville-Realschule in dem nordöstlich von Stuttgart gelegenen Ort fünfzehn Menschen getötet und dann Selbstmord begangen. Nach einer seiner Ansicht nach angemessenen Berichterstattung über diesen Vorfall befragt, antwortete Scheithauer ganz im Sinne von Hegerl und Ziegler: Er plädiere dafür, weder Bilder des Täters noch dessen Beweggründe publik zu machen; wenn denn über solche Ereignisse berichtet werden müsse, dann bloß über die Opfer, «über die schlimmen Folgen solcher Taten» [104] . Grundsätzlich gelte: Je weniger berichtet werde, desto besser. Scheithauer nennt für seine Empfehlung die bereits bekannten Gründe: Durch detaillierte Berichte über einen amoklaufenden Täter erhöhe sich die Wahrscheinlichkeit, daß er Nachahmer findet.
    Wer also geglaubt haben sollte, man müsse schreckliche Ereignisse nur anschaulich genug beschreiben, um die Menschen zum Umdenken zu bewegen, wird sich in seinem Glauben erschüttert finden. Wir Autoren spielen immer eine Doppelrolle: Wir klären auf, und wir propagieren Verhaltensweisen, die zu den beschriebenen Katastrophen führen. Wir enthüllen, und wir verfassen Gebrauchsanweisungen, die manchen Lesern die Fähigkeiten, denen unsere Abneigung oder unsere Ängste gelten, erst vermitteln. Wir sind eben Teil eines Systems, das uns prägt und das wiederum wir prägen – und das in jener steten Kreisbewegung, die keinen Anfang und kein Ende kennt. Ein ebenso tröstliches wie beunruhigendes Bild, denn wir haben einerseits die Chance, etwas zum Besseren oder zum Schlechteren zu wenden, andererseits aber zum Besseren oder zum Schlechteren gewendet zu werden.
    Wie ein möglicher Ausweg aus diesem Dilemma aussehen könnte, haben die zitierten Wissenschaftler bereits angedeutet. Aber wie wäre es, nur so als Vorschlag, die Berichterstattung vollkommen bleibenzulassen? Wie das beispielsweise im Jahr 1996 gelungen ist, als viele Medien von der Entführung Jan Philipp Reemtsmas wußten und doch nichts darüber verlauten ließen, weil man befürchten mußte, durch Berichte das Leben des Sozialwissenschaftlers zu gefährden. Es gibt einen Begriff für dieses bewußte Verschweigen: Tabu. Er stammt aus der Religion Polynesiens und ist mit der Vorstellung verbunden, man könne durch das Nicht-Aussprechen bestimmter Namen oder das Nicht-Betreten heiliger Orte die höheren Mächte für sich einnehmen (und bei Zuwiderhandlung gegen sich aufbringen). Womit auch klar wird, warum sich Tabus nicht einfach so etablieren lassen: Sie basieren auf Voraussetzungen, die tief in die religiösen Vorstellungen jedes einzelnen hineinreichen. Daher kennen wir auch bloß die Redewendung, man müsse endlich ein bestimmtes Tabu brechen. Aber selbst für den Fall, daß es uns gelingen sollte, bestimmte Themen planvoll zu tabuisieren – die Harry-Potter-Romane zeigen, daß damit noch nichts gewonnen ist: Um sich vor dem «dunklen Lord» zu schützen, vermeidet es die Zaubererwelt, seinen wahren Namen zu nennen; statt dessen wird er, der Inbegriff des Bösen, von allen immer nur als «Er, dessen Name nicht genannt werden darf» bezeichnet. Wie sich freilich im Laufe der Geschichte zeigt, haben Tabus eine ähnlich mächtige Wirkung auf die Menschen wie Negationen (da hilft auch nichts, daß sie Zauberer sind): Anstatt das Negierte zum Verschwinden zu bringen, geistert es beständig durch ihre Gedanken – und macht das Verdrängte mitunter präsenter als dessen positive Darstellung.

Nicht einmal Beschimpfungen bleiben immer das, was sie sind. Manchmal verwandeln sie sich vor unseren Augen in ihr Gegenteil. Und werden zu einem Adelsprädikat.
    Doch die Ambivalenz unserer Kritik bleibt nicht auf die manifesten Geschichten und Informationen beschränkt. Vielmehr entfaltet sie ihren Doppelcharakter auch im Zusammenhang mit unseren Bewertungen. So geschieht es immer wieder, daß wir etwas kritisieren, nur um anschließend dabei zusehen zu müssen, wie aus unserer Kritik das gerade Gegenteil wird: ein Plädoyer, eine Werbekampagne, ein Adelsprädikat. Die Geschichte ist voll

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