Mach's falsch, und du machst es richtig
Aufgaben zu lösen oder grundlegende Fertigkeiten zu erlernen. Den Tiger sehen und wegrennen ebenso wie den Cross über das Tennisnetz schwirren zu sehen und ihn mit einer gefühlvollen Backhand zu retournieren oder in einem Gesicht finster zusammengezogene Augenbrauen zu bemerken und zurückzuweichen.
Auch die Dekonstruktion der komplexen Realität und die Konstruktion unseres Weltbilds laufen in Form von Routinen ab. Kein Wunder also, daß es starke strukturelle Übereinstimmungen zwischen unseren Routinen sowie unseren einfachen Annahmen und Plänen gibt. Beide sind sie einfach gebaut, in sich widerspruchsfrei, schnell anwendbar und vermitteln uns das Gefühl der Sicherheit. Mit
einem
, dafür aber entscheidenden Unterschied: Während wir über die Ergebnisse unserer Weltaneignungsstrategien meist bewußt verfügen, entziehen sich unsere Routinen unserem Zugriff, ja, meist kennen wir sie nicht einmal, weshalb wir sie auch nicht steuern können. Und noch eine folgenschwere Eigenart besitzen sie: Wir können sie, weil unbewußt, kaum verändern oder adaptieren. Haben wir sie einmal entwickelt bzw. erworben, spulen wir sie immer wieder genau so ab, wie wir sie uns eingeprägt haben. Routinen sind also reibungslos funktionierende, unveränderbare Handlungs- und Wahrnehmungsabfolgen im lichtlosen Raum unseres Unbewußten, der uns auf ewig verschlossen bleibt.
Es gibt viele Gründe, unserem Gehirn dankbar dafür zu sein, daß es mit Hilfe solcher Routinen für unser Wohlergehen sorgt. Müßten wir uns um alles selber kümmern – wir wären längst tot. Nur angenommen, es gehörte zu unseren Aufgaben, unser Herz regelmäßig schlagen zu lassen, wären wir mit nichts anderem mehr beschäftigt. Es an den biologischen Autopiloten delegiert zu haben, war eine blendende Idee der Evolution. Alle lebenserhaltenden Jobs sind also in autonom funktionierenden Gehirnarealen bestens aufgehoben. Doch wie an unserem Beispiel aus dem World Trade Center zu sehen, gibt es Konstellationen, in denen uns das Gehirn mit seinen Gewohnheiten in ernsthafte Schwierigkeiten bringt. Weil die Eingeschlossenen nicht einschätzen konnten, was um sie herum geschah, startete ihr Gehirn das «Ich verlasse gleich das Büro»-Programm, was dazu führte, daß sie einen Schreibtisch aufräumten, den es wenige Minuten später nicht mehr geben sollte. Samt dem ihn umgebenden Büro und den 110 Stockwerke hohen Wolkenkratzern.
Manchmal greift unser Gehirn auf Routinen zurück und sorgt damit für das Gegenteil des Geplanten: Wir werden dümmer anstatt klüger oder rennen direkt in unser Verderben, anstatt uns zu retten.
Doch selbst wenn unser Gehirn im richtigen Augenblick das Notprogramm «Hilfe, es brennt» abruft, garantiert uns das nicht, daß es uns damit nicht noch größere Probleme bereitet, als wir ohnehin schon haben. Seit Jahren beschäftigt mich das Schicksal der Menschen, die bei dem Brandunglück in der österreichischen Gemeinde Kaprun ums Leben kamen – weil sie einer jener Routinen gefolgt sind, die in unserem Unbewußten schlummern und die sich in vielen anderen Fällen schon bewährt haben. Nur in diesem nicht.
Die Katastrophe ereignete sich am 11 . November 2000 kurz nach 9 : 00 Uhr. Damals startete die Gletscherbahn «Kaprun 2 » ihre Bergfahrt aufs Kitzsteinhorn, sie war mit 162 Passagieren besetzt. Nachdem die Bahn ein Fünftel des 3300 Meter langen Tunnels passiert hatte, blieb sie stehen. Der Heizlüfter im letzten Wagen war in Brand geraten. Durch herumspritzendes Hydrauliköl breitete sich das Feuer rasch aus und erfaßte weitere Waggons. Ein Teil der Menschen starb in den Wagen, weil sich deren Türen nur durch den Schaffner öffnen ließen. Anderen gelang es, Fenster einzuschlagen und sich zu befreien, um dann auf dem Weg ins Freie zu ersticken. Sie waren nämlich einer naheliegenden Routine gefolgt. Sie lautet: «Vom Feuer weglaufen!» Klingt plausibel und entspricht der evolutionär erworbenen Weisheit, sich von Gefahren zu
entfernen
. So rannten also die Menschen vom Feuer in den hinteren Waggons
weg
, den Berg hoch, um an den oberen Tunnelausgang zu gelangen. Dort wurden sie jedoch von ihrem Schicksal eingeholt – der Kamineffekt sorgte dafür, daß Luft auf der Talseite in den Tunnel ein- und an der Bergstation wieder ausströmte. Dadurch wurde nicht nur das Feuer angefacht, sondern auch das giftige Rauchgas in der Tunnelröhre nach oben befördert. Die panisch Fliehenden liefen also ihrem Verderben davon und
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