Mach's falsch, und du machst es richtig
damit letztlich direkt hinein. 150 Passagiere starben, die meisten davon durch Rauchgasvergiftungen; manche davon wurden ohnmächtig, kurz bevor sie den oberen Ausgang des Tunnels erreicht hatten, nachdem es ihnen gelungen war, sich 3000 Meter bergauf zu kämpfen. Das klassische Fluchtverhalten hatte die Menschen in den sicheren Tod dirigiert.
Überlebt hingegen haben jene Passagiere, die sich gegen diese Routine auflehnten und ihrer Vernunft folgten. Unter ihnen befand sich der Österreicher Gerhard Hanetseder, der die Geschichte seiner Rettung mittlerweile unzählige Male hat erzählen müssen. Es sei ihm gelungen, sich und seine damals zwölfjährige Tochter Christina aus dem Fenster des untersten Wagens zu quetschen, wo das Feuer ausgebrochen war. Hanetseder hat es zwar nicht explizit so erzählt, aber aus seinen Schilderungen ist zu entnehmen, daß den entscheidenden Impuls, nicht den anderen hinterherzurennen, ein älterer Mann gegeben hat. Der habe hinter Hanetseder gerufen: «Hinunter, um Gottes willen, hinunter! Feuer brennt nach oben!» Also lief Hanetseder mit seiner Tochter, gegen den Impuls seines inneren Notprogramms,
zum
Feuer, gleichsam
durch das Feuer hindurch
– und gelangte so zum nahe gelegenen unteren Ausgang, von dem ihm frische Luft entgegenströmte. Dem Vater und seiner Tochter folgten bloß zehn deutsche Urlauber. Alle anderen taten, was wohl die meisten von uns getan hätten. Und starben.
Es gibt viele Beispiele, die zeigen, wie unsere Routinen uns ins Verderben stürzen. Ein besonders verheerendes der vergangenen Jahre war die «Loveparade» in Duisburg. Dort kam es am 24 . Juli 2010 zu einer Massenpanik, die 21 Menschen das Leben kostete. Über 500 wurden verletzt. Anläßlich dieses Dramas schrieb der amerikanische Buchautor Jeff Wise [142] , der sich mit dem Thema archaischer Routinen eingehend beschäftigt hat, einen Blog-Beitrag [143] . Die Ereignisse bei der Loveparade zählten «zur verwirrendsten Form einer Tragödie», weil sie sich «aus der normalen Psychologie gesunder Menschen» entfaltet habe. Mitverursacht worden sei die Katastrophe laut Wise durch unsere archaischen Routinen, die mit den Anforderungen der Gegenwart immer wieder in Konflikt gerieten: «Wenn Menschenmassen eine kritische Dichte erreichen, werden die Individuen anfällig für eine ansteckende Form blinder Angst, die jeden Versuch zunichte macht, rational zu handeln. Die Paradoxie dieses Grauens besteht darin, daß sich die unbewußte Reaktion auf diese Angst – die sich über Millionen von Jahren entwickelt hat, um uns sicher durchs Leben zu bringen – im 21 . Jahrhundert als schreckliche Gefahr darstellt.» Der Umstand also, daß uns die Evolution eine Strategie tausendfach erfolgreich hat anwenden lassen, garantiert nicht, daß sie uns auf ewig die besten Dienste leistet. Es kommt auf den Kontext an, ob sie uns das Leben rettet – oder mitunter kostet.
Wir müssen aber nicht die tragischsten Fallbeispiele bemühen, um plausibel zu machen, daß unsere Routinen zum genauen Gegenteil des Gewünschten führen können. Es genügt schon, wenn wir uns ansehen, wie sie sich auf unsere Klugheit auswirken. Dazu findet sich auf der Homepage des US -amerikanischen Geheimdienstes eine spannende «ethnographische Studie» aus dem Jahr 2005 . [144] Sie heißt «Analytic Culture in the US Intelligence Community», wurde von dem Ethnographen Rob Johnston verfaßt und widmet sich in Kapitel 5 der Frage des Expertentums. Johnston vertritt die These, um zum Experten zu werden, «muß man die Welt eine signifikante Anzahl von Jahren aus dem Blickwinkel eines ganz spezifischen Arbeitsgebietes betrachten». Eine Fokussierung auf ein kleines Fachgebiet, das durch «den Ausschluß vieler anderer Arbeitsgebiete» erkauft werde. Mit anderen Worten: Experten lösen aus der komplexen Realität ein ganz kleines Teilgebiet heraus, um es besonders genau unter die Lupe zu nehmen. Klingt erst mal plausibel und weiter nicht bemerkenswert, hat aber eine paradoxe Kehrseite. So führt die Spezialisierung dazu, daß die Experten die gängigen Muster in ihrem Fachgebiet kennenlernen; sie werden also zu Großmeistern darin, Routinen zu entwickeln und mit deren Hilfe immer tiefer in ihr Fachgebiet einzudringen. Das hat zwar den großen Vorteil, daß sie schnell und kompetent Fakten und Probleme erkennen können. Doch Johnston benennt auch die unerwünschten Begleiterscheinungen dieser Spezialisierung. Er nennt es das «Paradox der
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