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Mach's falsch, und du machst es richtig

Mach's falsch, und du machst es richtig

Titel: Mach's falsch, und du machst es richtig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ankowitsch
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tritt §  323  c des Strafgesetzbuchs in Kraft. Der lautet: «Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.» Die juristische Bezeichnung für das Nichthandeln unseres Mannes: «Unterlassene Hilfeleistung».
    Es gibt unzählige weitere Beispiele für Konstellationen, in denen Nichtstun negative (juristische) Folgen hat. So kann sich unser Mann auf der Parkbank, den wir nun kurzerhand in ein Einfamilienhaus verpflanzen, auch in Schwierigkeiten bringen, indem er wochenlang untätig in seinem Haus sitzt, ohne die geringste Absicht, irgend jemandem etwas zuleide zu tun. Ignoriert er nämlich das grimmige Winterwetter, wird eines Tages ein Passant auf dem Schnee vor seinem Haus ausrutschen, sich den Arm brechen und ihn verklagen – und das vollkommen zu Recht. Muß doch jeder Hausbesitzer dafür Sorge tragen, daß man den Bürgersteig vor seinem Haus ungefährdet passieren kann, und genau das hat er unterlassen. Er ist seiner Aufgabe als «Überwachergarant» nicht nachgekommen, einer Pflicht, der auch Bauarbeiter unterliegen. Die müssen nämlich nicht nur perfekte Gruben für neue Gasleitungen ausheben, sondern auch sicherstellen, daß keiner an den Folgen ihres erfolgreichen Tuns Schaden nehmen, also in die Grube fallen kann.
    Während wir dieser Argumentation nach kurzem Bedenken zustimmen werden, fällt uns das mit der folgenden deutlich schwerer. So müssen sich sogar Opfer von Verbrechen bisweilen fragen lassen, ob sie nicht mitschuld sind am eigenen Schicksal. «Wie bitte?» werden nun viele denken, «da werde ich aus heiterem Himmel überfallen und muß mich so etwas Unverschämtes fragen lassen?» Ja, das müssen wir. Wenn sich nämlich herausstellt, daß wir auf fahrlässige Weise untätig geblieben sind. Darauf hat Tatjana Hörnle vom Lehrstuhl für Strafrecht an der Berliner Humboldt-Uni in einem interessanten Aufsatz hingewiesen. [176] Sie argumentiert darin, daß es zwar prinzipiell keine Verpflichtung gebe, sich zu schützen, also niemand von uns verlangen könne, mit Sturzhelm und Waffe aus dem Haus zu gehen – andernfalls würde man unsere Freiheit unzulässig einschränken, zu leben, wie wir wollen (also auch leichtsinnig). Dieses Recht auf persönliche Freiheit könne uns jedoch nicht garantieren, stets als unschuldiges Opfer betrachtet zu werden, sollte einmal etwas passieren. Es gebe sogar Situationen, in denen das Gericht zu überlegen habe, einen Täter weniger hart zu bestrafen, weil es das Opfer an der «Obliegenheit, sich selbst zu schützen» [177] habe fehlen lassen. So argumentiert Hörnle beispielsweise, daß sich das Opfer eines sexuellen Übergriffs mitschuldig machen könne, wenn es sich mit jemandem einläßt, obwohl es das Risiko gekannt hat, daß sich der andere über sein fehlendes Einverständnis hinwegsetzen könnte, er also ein «Nein» nicht respektieren würde. Wann und in welchem Ausmaß wir für das eigene Schicksal mitverantwortlich gemacht werden (und wann wir gleichsam als «reine» Opfer gelten können) – darauf kann ein Gericht nur schlüssige Antworten finden, wenn es die konkreten Umstände berücksichtigt: die Leichtfertigkeit des Opfers, ob es Verabredungen zwischen Täter und Opfer gegeben hat und so fort. Wie auch immer dessen Urteil ausfallen mag: An der grundsätzlichen Verpflichtung, über die Folgen unseres Nichthandelns in derselben Weise nachzudenken wie über die unseres Handelns, ändert all das nichts.
    Juristische Texte sind eine erhellende Lektüre (zumindest in kleinen Dosen): Sie sagen uns, in welchen Zusammenhängen wir Menschen gerne Fehler machen und welche Schwächen weiter verbreitet sind, als wir glauben. So lautet die indirekte Botschaft des vorhin zitierten Paragraphen über die «unterlassene Hilfeleistung» auch, daß es vielen Menschen ganz offensichtlich schwerfällt einzusehen, daß sie auch für die Folgen ihres Nichtstuns verantwortlich sind. Dafür wird der Gesetzgeber an anderer Stelle sehr deutlich. In §  13 StGB zum Beispiel. Der Paragraph regelt den Fall, daß jemand von einem Verbrechen erfährt, das ein anderer plant, aber untätig bleibt. Die klare Botschaft: Wer es unterläßt, «einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört»,

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