Mach's falsch, und du machst es richtig
besitzen wir Menschen ganz offensichtlich
doch
ein gewisses Sensorium für die Folgen individuellen Nichtstuns, sind also durchaus in der Lage, uns ihrer bewußt zu werden. Und zum anderen wechseln unsere Gefühle je nach Situation und Zeitpunkt ihre Färbung und Intensität, so wie auch unsere Bewertung dieser unterschiedlichen Gefühle je nach Situation und Zeitpunkt wechseln. Schön, diese zigfach gemachte, subjektive Erfahrung auch von wissenschaftlicher Seite einmal bestätigt zu bekommen und solcherart legitimiert.
Wir Menschen haben eine angeborene Neigung, in Entscheidungssituationen erst einmal nichts zu tun. Das kann uns finanzielle Verluste eintragen, aber auch das Leben retten.
Wir werden also noch ein paar Schritte tun müssen, um von weiteren Ambivalenzen zu erfahren (nach einfachen «Patendrezepten» hingegen, wie das Watzlawick nannte, sollten wir aus eigenem Interesse keinesfalls suchen). Dabei hilft uns der amerikanische Psychologe Christopher J. Anderson weiter, der im Jahr 2003 den lesenswerten Aufsatz «Die Psychologie des Nichtstuns» [181] geschrieben hat. Darin faßt er die Ergebnisse einer Reihe von Einzelforschungen zusammen, die allesamt zu klären versuchen, wann und warum wir zur Untätigkeit neigen; darunter auch Arbeiten der eben erwähnten Psychologen. Folgen wir seinen Überlegungen, dann sind es vor allem Situationen der Ungewißheit, in denen wir die Tendenz entwickeln, nichts zu tun. Das ist auf den ersten Blick nicht verwunderlich. Wer zum Beispiel vor der weitreichenden Entscheidung steht, ob er ins fremdsprachige Ausland gehen soll oder nicht, der hält erst einmal inne. Wie wird es dort sein? Werden sich meine Erwartungen erfüllen? Die Versprechen des neuen Arbeitgebers eintreffen? Was wird mit den Freunden zu Hause geschehen? Es gibt noch ein paar weitere Strategien, mit solch schwierigen Momenten umzugehen, wie Zeit zu vertrödeln oder mit dem gewohnten Tagesablauf unverdrossen weiterzumachen, als stünde nichts an. Welchen dieser Wege wir auch gehen mögen, wir verfolgen stets das gleiche Ziel: Wir versuchen, eine konkrete Entscheidung zu vermeiden und den befürchteten inneren wie äußeren Konflikten auszuweichen. Wir werden weiter unten noch sehen, daß wir
auf jeden Fall
eine Entscheidung treffen, auch wenn wir noch so lange nichts tun sollten.
Vorerst aber soll es um die Frage gehen, warum wir uns immer wieder fürs Nichtstun entscheiden. Dazu haben sich die zitierten Wissenschaftler genauer angesehen, wie wir in den Momenten der Ungewißheit agieren – und daraus ihre Schlüsse gezogen. Kahneman zum Beispiel formulierte auf Basis der Beobachtungen seine «Prospect Theory» («Neue Erwartungstheorie»). Sie wird seitdem gerne angewandt, um vor allem unsere wirtschaftlichen Entscheidungen zu erklären, die oft alles andere als klug seien. So haben wir die Angewohnheit, gegen die eigenen ökonomischen Interessen zu handeln, indem wir es etwa unterlassen, die Krankenkasse zu wechseln, obwohl sie immer teurer wird; an unserer Altersvorsorge nichts zu ändern, obwohl sich die Zeiten geändert haben; und seit Jahren vor sich hindümpelnde Aktien zu behalten, obwohl wir sie längst hätten verkaufen sollen.
Doch wie lauten nun die klassischen Gründe für diese Form des mitunter selbstschädigenden Nichtstuns? Anderson hat vier ausfindig gemacht; sie könnten einzeln wirksam werden, aber auch gemeinsam. Als ersten Grund nennt Anderson den «Status Quo Bias», also den «systematischen Fehler» («Bias»), alles so belassen zu wollen, wie es ist. Unser Motiv: Wer nicht weiß, welche Option für ihn die optimale ist, hält am aktuellen Zustand fest, anstatt mutig in eine bestimmte Richtung loszumarschieren. Es könnte ja die falsche sein. Dazu kommt unsere Überzeugung, daß wir dort, wo wir gerade stehen, aus guten Gründen sind. Wir haben viel dafür getan, irgendwie hat es bisher ganz gut geklappt – wozu also etwas Neues mit ungewissem Ausgang beginnen? Besser also wir tun – nichts! Ein Ansatz übrigens, mit dem man unzählige Mißstände in der Politik und in Unternehmen erklären könnte, aber das ist ein anderes Thema. Auf unsere Fähigkeit zur Adaption, zum Arrangement mit der aktuellen Situation, bin ich im Kapitel «Geheime Versprechen» eingegangen.
Der «Omission Bias» wiederum ist eng mit jenem Phänomen verbunden, das wir weiter oben genauer beschrieben haben, als davon die Rede war, daß wir die negativen Folgen unseres Handelns und Nichthandelns
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