Mach's falsch, und du machst es richtig
der wird nicht mit einer eigens fürs Nichtstun definierten Strafe bedacht. Vielmehr verurteilt man ihn auf der Basis
genau jenes Gesetzes
, gegen das der Täter verstoßen konnte, weil wir ihn nicht zurückgehalten haben. Wären wir also in der Lage, einen Mord zu verhindern, unterlassen es aber, werden wir behandelt wie ein Mörder und genauso bestraft. Noch radikaler formuliert: Die Unterlassung macht uns zum Mörder und daher auch das StGB keinen Unterschied zwischen der Tat und jenem, der die Tat durch Nichthandeln ermöglicht. Folgerichtig ist § 13 mit «Begehen durch Unterlassen» überschrieben.
Eine klare Sache, sollten wir meinen. Und dennoch neigen die meisten von uns dazu, Handeln und Nichthandeln vollkommen verschiedenartig zu bewerten, weil wir ihm unterschiedliche Wirkung zuschreiben. Über mögliche Gründe für diese unterschiedliche Bewertung gibt die einschlägige Forschung der kognitiven Psychologie Auskunft. So fand der Psychologe Thomas Gilovich in einer Studie, die er gemeinsam mit Victoria Husted Medvec im Jahr 1995 publizierte [178] , heraus, daß wir die unangenehmen Folgen von Handlungen stärker bedauern als jene, die sich aufgrund unseres Nichthandelns einstellen. Mit anderen Worten: Wenn wir etwas unternehmen, und es geht schief, tut uns das mehr leid als ein Unglück, das wir durch Untätigkeit hervorgerufen haben. Auf diese Erkenntnis bezog sich auch der Psychologe Michael Siegrist von der ETH Zürich, als man ihn nach den Ursachen für die Impfmüdigkeit der Menschen befragte. [179] Seine Erklärung: «Konsequenzen aus Handlungen werden immer stärker gewichtet als Konsequenzen von Unterlassungen. Die Forschung zeigt beispielsweise, daß Todesfälle durch Impfungen viel stärker gewichtet werden als Todesfälle durch einen Impfverzicht.» Wenn wir also mit unseren Kindern zur Impfung gehen und sie daraufhin erkranken, suchen wir die Schuld bei uns. Werden sie jedoch krank, weil wir sie nicht haben impfen lassen, sind wir geneigt, die Schuld überall zu suchen – nur nicht bei uns. Wir betrachten also nur unsere Handlungen als Ausdruck unseres freien Willens und rechnen nur diese unserer souveränen Entscheidungsgewalt zu, während wir unseren Nichthandlungen diese klare Anbindung ans Ich versagen; in deren Auswirkungen sehen wir etwas Schicksalhaftes, das Wirken von Mächten und Umständen, die sich unserem Zugriff entziehen.
Im Laufe ihres Aufsatzes schränken Gilovich und Medvec ihre Aussage freilich ein und machen damit die Klärung der Sache nicht einfacher: Sie schreiben, daß wir die negativen Folgen von Handlungen nur
kurzfristig
mehr bedauerten als jene von Nichthandlungen. Nach einer gewissen Weile aber würde sich unsere Gefühlslage umkehren und wir mehr übers Nichthandeln grübeln. Dieser Wechsel der Emotionen habe damit zu tun, daß der spontane Schmerz über unser ungeschicktes Handeln verblasse, dafür aber die Wehmut über Nichtgetanes bestehen bleibe. Außerdem würden uns die Konsequenzen verpaßter Gelegenheiten sowie der Preis, den wir für sie zu bezahlen hätten, erst im Laufe der Zeit bewußt. Mit einem Wort: Auf lange Sicht bereiteten uns die negativen Folgen unserer Unterlassungen heftigere Kopfschmerzen als jene unserer Taten.
Als wäre die Sache nicht schon schwierig genug, widersprach dieser These noch im selben Jahr der Psychologe und Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman. Das mit dem Nichtstun sei nicht ganz so schlimm, wie Gilovich & Co. behaupteten. Es möge ja sein, daß es uns beschäftige, aber wir empfänden beim Gedanken, in bestimmten Situationen untätig geblieben zu sein, bloß das Gefühl der Wehmut; und dieses Gefühl belaste uns nicht besonders. Der Ärger über eigene Ungeschicklichkeiten wiege da deutlich schwerer.
Es dauerte drei Jahre, bis sich Gilovich, Medvec und Kahneman – also die drei an dem Disput beteiligten Psychologen – zusammengestritten hatten. Dann setzten sie sich hin und schrieben gemeinsam einen Aufsatz mit dem versöhnlichen Titel «Varianten des Bedauerns» [180] . Darin kündigten sie eine «teilweise Lösung» für ihre Meinungsverschiedenheiten an. Und die lautete so: Manchmal reagierten wir wehmütig auf die Folgen des Nichtstuns, und das sei nicht so schlimm; in anderen Momenten hingegen würden wir darunter leiden, und das sei durchaus ernst zu nehmen. Abschließende Gewißheiten sehen zwar anders aus, aber zwei wichtige Tendenzen lassen sich dieser Kompromißformel entnehmen: Zum einen
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