Macht (German Edition)
Fehlen eines legitimen Ventils für die Energie in der Kinder-und Jugendzeit kann die gleiche Wirkung haben. Ich glaube, dass wenige Menschen grausam sind, wenn sie eine richtige Erziehung in der Kindheit genossen, keine gewaltsamen Vorgänge erlebt und keine unnötigen Schwierigkeiten in ihrer Laufbahn gehabt haben. Wenn diese Bedingungen gegeben sind, wird die Machtliebe der meisten Menschen einen nützlichen oder zumindest unschädlichen Ausweg suchen.
Die Frage der Möglichkeit hat sowohl einen positiven als auch einen negativen Aspekt: Es ist wichtig, dass es für die Laufbahn eines Piraten oder Räubers oder Diktators keine Möglichkeiten gibt, genauso, wie es für einen weniger zerstörerischen Beruf Möglichkeiten geben sollte. Es muss eine starke Regierung geben, um Verbrechen zu verhindern, und ein kluges Wirtschaftssystem, um sowohl die Möglichkeit legaler Formen des Raubes zu verhindern als auch um so vielen jungen Leuten wie möglich anziehende Laufbahnen bieten zu können. Das ist viel leichter in einem Gemeinwesen, das reicher wird, als in einem, das verarmt. Nichts hebt das moralische Niveau einer Gemeinschaft mehr als wachsender Wohlstand, und nichts senkt es so sehr wie eine Verringerung der Lebenshaltung. Dass der allgemeine Ausblick vom Rhein bis zum Stillen Ozean heutzutage so trübselig ist, beruht zum großen Teil auf der Tatsache, dass so viele Leute ärmer sind als ihre Eltern waren.
Die Bedeutung der Ausbildung für die Herausbildung der Form, die die Machtliebe annimmt, ist sehr groß. Um ganz allgemein zu sprechen, erfordert Zerstörung, abgesehen von bestimmten Formen des modernen Krieges, sehr wenig Ausbildung, während Aufbau immer welche verlangt, in den höchsten Formen sogar sehr viel. Die meisten Menschen, die eine schwierige Ausbildung gehabt haben, haben Freude an ihrer Arbeit und ziehen sie einer leichteren vor; dies kommt daher, dass die qualifizierte Ausbildung, bei Gleichstand der anderen Faktoren, der Machtliebe zuträglicher ist. Der Mann, der gelernt hat, Bomben aus einem Flugzeug zu werfen, wird diese Arbeit der lächerlichen Beschäftigung vorziehen, die sich ihm in Friedenszeiten bietet; aber der Mann, der gelernt hat, sagen wir, das gelbe Fieber zu bekämpfen, wird dies der Arbeit eines Heeresarztes in Kriegszeiten vorziehen. Der moderne Krieg erfordert eine bedeutende Ausbildung, und das macht ihn für alle möglichen Sorten von Fachleuten anziehend. Eine große wissenschaftliche Ausbildung ist gleichermaßen in Frieden und Krieg vonnöten; ein wissenschaftlicher Pazifist besitzt keine Möglichkeiten, sich zu vergewissern, dass seine Entdeckungen und Erfindungen nicht dazu benutzt werden, die Zerstörung der nächsten Auseinandersetzung zu vermehren. Nichtsdestoweniger gibt es, allgemein gesprochen, einen Unterschied zwischen einer Ausbildung, die ihren breitesten Wirkungskreis im Frieden, und einer solchen, die ihn im Kriege findet. Soweit ein solcher Unterschied besteht, wird die Machtliebe eines Menschen ihn dem Frieden geneigt machen, wenn seine Ausbildung von der ersten Art ist – im anderen Falle wird er den Krieg vorziehen. Auf diese Weise kann die technische Ausbildung viel zur Form beitragen, die die Machtliebe annehmen wird.
Es ist nicht durchaus wahr, dass Überzeugung eine Sache ist und Gewalt eine andere. Viele Formen der Überzeugung – von denen viele selbst von jedermann gebilligt werden – stellen tatsächlich eine Art Gewalt dar. Man sehe sich an, was wir mit unseren Kindern machen. Wir sagen ihnen nicht: »Manche Leute glauben, die Erde sei rund, und andere glauben, sie sei platt; wenn du groß bist, kannst du, wenn du willst, den Tatbestand untersuchen und deine eigenen Schlüsse daraus ziehen.« Statt dessen sagen wir: »Die Erde ist rund.« Wenn unsere Kinder alt genug sind, die Dinge zu prüfen, hat unsere Propaganda ihren Verstand festgelegt, und die überzeugendsten Argumente der Platt-Erde-Gesellschaft machen keinen Eindruck mehr auf sie. Das gleiche trifft auf moralische Vorschriften zu, die wir für wirklich wichtig halten, wie zum Beispiel »Du sollst nicht in der Nase bohren« oder »Du sollst Erbsen nicht mit dem Messer essen«. Es mögen, ohne dass ich es weiß, wundervolle Gründe dafür vorhanden sein, Erbsen mit dem Messer zu essen, aber die hypnotische Wirkung der frühzeitigen Überzeugung hat mich völlig unfähig gemacht, sie in ihrer Bedeutung zu erkennen.
Die Ethik der Macht kann nicht darin bestehen, dass man bestimmte
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