Macht (German Edition)
andererseits bedeutet Regierung Ungleichheit in der Machtverteilung, und die am meisten Macht besitzen, werden sie zur Förderung ihrer eigenen Ziele gebrauchen, die denen der durchschnittlichen Bürger entgegengesetzt sind. So sind Anarchie und Despotismus gleichermaßen verderblich, und ein Kompromiss ist notwendig, wenn die Menschen glücklich sein sollen.
In diesem Kapitel möchte ich die Organisationen untersuchen, die sich auf ein gegebenes Individuum beziehen – nicht Individuen in Zusammenhang mit einer gegebenen Organisation. Diese Angelegenheit ist natürlich in demokratischen und totalitären Staaten durchaus verschieden, denn in den letzteren sind mit wenigen Ausnahmen alle betreffenden Organisationen Abteilungen des Staates. So weit wie möglich will ich aber diesen Unterschied in einem einleitenden Überblick beiseite lassen.
Sowohl öffentliche wie private Organisationen wirken auf zweierlei Weise auf das Individuum. Es gibt solche, die ihm die Verwirklichung seiner Wünsche, oder was man für seine Interessen hält, erleichtern sollen, und es gibt solche, die es daran hindern sollen, die legitimen Interessen anderer zu schädigen. Die Unterscheidung ist nicht fest umrissen: Die Polizei ist da, um die Interessen ehrlicher Menschen zu fördern, wie auch, um Einbrechern entgegenzutreten, aber ihr Einfluss auf das Leben von Einbrechern ist viel nachdrücklicher als ihre Verbindung zu jenen, die auf dem Boden des Gesetzes stehen. Ich werde auf diese Unterscheidung zurückkommen; für den Augenblick wollen wir die wichtigsten Umstände im Leben von Individuen zivilisierter Gemeinwesen betrachten, in denen eine Organisation eine entscheidende Rolle spielt.
Um mit der Geburt zu beginnen: Die Dienste eines Arztes oder einer Hebamme werden als wesentlich angesehen, und obwohl man früher eine völlig ungeschulte Mrs. Gamp für ausreichend hielt, wird nun ein gewisses Maß an Erfahrung gefordert, über das eine öffentliche Behörde entscheidet. Das ganze Säuglings-und Kindheitsalter hindurch kümmert sich der Staat in gewissen Grenzen um die Gesundheit; das Maß an staatlicher Überwachung wird in den verschiedenen Ländern ziemlich genau von der Kurve der Säuglings-und Kindersterblichkeit wiedergegeben. Wenn die Eltern ihre elterlichen Pflichten zu offenkundig verletzen, können ihnen die Behörden das Kind wegnehmen und der Pflege eines Vormunds oder einer Einrichtung übergeben. Im Alter von fünf oder sechs Jahren kommt das Kind unter die Obhut der Unterrichtsbehörden und muss von diesem Moment an einige Jahre lang jene Dinge lernen, von denen die Regierung glaubt, dass jeder Bürger sie wissen müsse. Bei Abschluss dieses Prozesses sind in den meisten Fällen die meisten Ansichten und geistigen Gewohnheiten für das ganze Leben festgelegt.
Inzwischen wird in demokratischen Ländern das Kind anderen Einflüssen ausgesetzt, die nicht vom Staat ausgehen. Wenn die Eltern religiös oder politisch eingestellt sind, werden sie ihren Nachkommen einen Glauben oder eine Parteiansicht beibringen. Wenn das Kind älter wird, interessiert es sich in steigendem Maße für organisierte Vergnügungen, wie zum Beispiel Kino oder Fußball. Wenn es ziemlich, aber nicht sehr intelligent ist, kann es von der Presse beeinflusst werden. Wenn es eine Schule besucht, die nicht staatlich ist, erwirbt es eine Anschauung, die in mancher Weise eine besondere ist – in England handelt es sich gewöhnlich um eine Anschauung, die auf gesellschaftlicher Überlegenheit über die Masse beruht. Gleichzeitig nimmt es eine Moral an, die seinem Alter, seiner Klasse und Nation entspricht. Die Moral ist wichtig, aber nicht leicht zu definieren, weil ihre Regeln von dreierlei, voneinander nicht scharf abgegrenzter Art sind: erstens solche, denen man wirklich folgen muss bei Strafe allgemeiner Verachtung; zweitens solche, gegen die man nicht offen handeln darf; und drittens solche, die als vervollkommnende Ratschläge gewertet werden und eigentlich nur von Heiligen befolgt werden können. Moralvorschriften, die man auf die ganze Bevölkerung anwenden kann, sind hauptsächlich, wenn auch keineswegs gänzlich, das Ergebnis religiöser Tradition und wirken durch religiöse Organisationen. Sie können ihren Niedergang für längere oder kürzere Zeit überleben. Es gibt auch einen Berufskodex: Dinge, die beispielsweise ein Offizier, ein Arzt oder ein Anwalt nicht tun darf. Solche Vorschriften werden in neuerer Zeit in der Regel von
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