Macht (German Edition)
werden oder jedenfalls eine Art Tyrannei aufrichten. Diese Gefahr ist keineswegs imaginär, aber die Methoden zu ihrer Bekämpfung sind wohlbekannt. Es besteht auch die Gefahr, dass die Polizei von den Machthabern benützt wird, um Bewegungen zugunsten wünschenswerter Reformen zu verhindern oder zu stören. Dass dies bis zu einem gewissen Grade geschehen muss, scheint beinahe unvermeidlich. Es gehört zu der fundamentalen Schwierigkeit, dass notwendige Maßnahmen zur Verhinderung der Anarchie es schwierig machen, den Status quo zu ändern, wo er geändert werden müsste. Trotz dieser Schwierigkeit würden wenige Mitglieder zivilisierter Gemeinwesen es für möglich halten, ganz ohne Polizei auszukommen.
Bisher haben wir Krieg oder Revolution oder die Furcht vor beiden nicht in Rechnung gestellt. Sie haben mit dem Selbsterhaltungstrieb des Staates zu tun und führen zu den drastischsten Formen der Kontrolle über das Leben des einzelnen. In fast allen kontinentalen Ländern besteht die allgemeine Wehrpflicht. überall kann bei Ausbruch des Krieges jeder Mann in militärpflichtigem Alter zum Kampf gerufen werden, und jedem Erwachsenen kann befohlen werden, die Arbeit zu tun, die die Regierung als besonders notwendig zur Erringung des Sieges betrachtet. Jene, deren Handlungen als Hilfe für den Feind gewertet werden, sind der Todesstrafe ausgesetzt. In Friedenszeiten ergreifen alle Regierungen Maßnahmen – und zwar mehr oder weniger drastische –, um im gegebenen Moment Kampfesbereitschaft und jederzeit Loyalität gegenüber der nationalen Sache zu sichern. Was die Revolution angeht, so hängen die Maßnahmen der Regierung von den revolutionären Möglichkeiten ab. Bei einem Gleichstand der übrigen Faktoren wird die Gefahr der Revolution größer sein, wenn die Regierung sich wenig um das Wohlergehen der Bürger kümmert. Wo aber, wie in totalitären Staaten, die Regierung ein Monopol nicht nur über den physischen Druck, sondern auch über moralische und wirtschaftliche Überzeugung verfügt, kann sie in der Missachtung ihrer Bürger weiter gehen als eine weniger nachdrückliche Regierung, weil das revolutionäre Fühlen weniger leicht verbreitet und organisiert werden kann. Man kann daher erwarten, dass, insofern jeder Staat sich von der Masse der Bürger abhebt, jeder Machtzuwachs ihn gleichgültiger gegenüber ihrem Wohlergehen machen wird.
Aus dem vorausgegangenen kurzen Überblick scheint man folgern zu können, dass die hauptsächliche Wirkung von Organisationen, wenn man von denen absieht, die den Selbsterhaltungswillen der Regierung als Ausgangspunkt haben, in der Richtung einer Zunahme des individuellen Glücks und Wohlseins geht. Erziehung, Gesundheit, Arbeitsproduktivität, Maßnahmen gegen Verarmung sind Dinge, über die es im Prinzip keinen Streit geben dürfte, und sie alle beruhen auf einem hohen Organisationsstandard. Wenn wir aber zu Maßnahmen kommen, die Revolution oder militärische Niederlage verhindern sollen, ist es anders. Für wie notwendig solche Maßnahmen auch gehalten werden mögen – ihre Wirkungen sind unerfreulich, und sie können nur mit dem Argument verteidigt werden, dass Revolution oder Niederlage noch unerfreulicher sein würden. Der Unterschied ist vielleicht ein geringer. Man könnte sagen, dass Impfung, Erziehung und Straßenbau unerfreulich sind, aber in geringerem Maße als Pocken, Unwissenheit und unpassierbare Moräste. Der graduelle Unterschied ist jedoch so bedeutend, dass er fast einem Unterschied im Wesen gleichkommt. Außerdem braucht die Unerfreulichkeit von Maßnahmen in Friedenszeiten nur vorübergehend zu sein. Die Pocken könnten zum Verschwinden gebracht und die Impfung damit überflüssig werden. Erziehung und Straßenbau könnten beide einigermaßen angenehm gemacht werden durch die Anwendung fortschrittlicher Methoden. Aber jeder technische Fortschritt macht den Krieg schmerzlicher und zerstörender und die Verhütung der Revolution mit totalitären Methoden schlimmer für die Humanität und Intelligenz.
Es gibt noch eine Art, um die Beziehungen des Individuums zu verschiedenen Organisationen zu klassifizieren: Es kann Kunde, freiwilliges Mitglied, unfreiwilliges Mitglied oder Feind sein.
Die Organisationen, deren Kunde ein Mensch ist, müssen von ihm seiner Bequemlichkeit für zuträglich angesehen werden, tragen aber nicht viel zu seinem Machtgefühl bei. Er kann sich natürlich in seiner Meinung von ihren Möglichkeiten irren: Die Pillen, die er
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