Macht: Geschichten von Erfolg und Scheitern (German Edition)
hätte ich Pfarrer oder Milchmann werden müssen.« Er ist dann doch lieber Chef.
Dass er für seine Verdienste keinen Beifall erwartet hat, wiederholt er häufig. Ob er heute auch hier säße, wenn er ihn angemessen bekommen hätte? Für ihn ist das fraglos. Seine Belohnung fand er darin, mit Gleisarbeitern morgens um fünf Uhr beim Kaffee zu sitzen. Dort erfuhr er auch, was alles Mist ist in seinem Unternehmen. Überhaupt sei es seine Lieblingsbeschäftigung, mit Menschen zu sprechen. Vom Taxifahrer bis zum Vorstandsvorsitzenden. »Wer noch lieber zuhört als redet, der hört nicht auf zu lernen.« Und bekommt die Strömungen mit, die ihn umgeben.
Er mag diese Jungsbilder vom Gleis und auch die »Hartmut gegen den Rest der Welt«-Haltung ist viel mehr sein wahres Gesicht als eine Maske. Aber die Haut ist dicker geworden in seiner Zeit als Bahn-Chef der Nation. Jahrelang tauchte er beinahe so häufig in den Medien auf wie der Bundeskanzler. Sein Beruf war längst zu seinem Vornamen geworden. In wiederkehrenden Umfragen, die Unternehmerpersönlichkeiten Zeugnisse für die Qualität ihrer Arbeit ausstellten, lag er lange unangefochten auf dem letzten Platz. Warum das so war, kann er sich bis heute nicht so recht erklären. Er mag sich eigentlich auch nicht dafür interessieren. Und füllt die entstandene Gesprächspause doch mit seinen Theorien. Es sei nun mal so, wenn man einen Konzern neu aufstellt, dann gibt es Streitereien mit Gewerkschaften, Betriebsräten, immer wieder Ärger mit Politikern, »die ein Interesse haben, ihr Engagement populistisch in die Öffentlichkeit zu tragen«. Führung heißt eben, Entscheidungen zu treffen. Auch einsame. »Wenn ich für alle notwendigen Maßnahmen Genehmigungen eingeholt und jeden Plan vorher diskutiert hätte, hätten sie doch schnell wieder nach jemandem gerufen, der die Dampflock zurück will«. So rechtfertigt er seine Alleingänge. Die Bahn wurde mit seinem Stil profitabel und das größte Transportlogistikunternehmen der Welt. Auf seinem Weg dorthin hat er viele Begleiter verloren. Solche, die eine andere Bahn wollten als er, die seine visionäre Kraft nicht verstanden haben. Aber auch die Befürworter sind leise geworden mit den Jahren. Zermürbt von ständigen Debatten um Preiserhöhungen, Qualitätsmängel, von zähen Tarifverhandlungen, persönlichen Ringkämpfen und einer verheerenden Öffentlichkeitswirkung des Lok-Anführers.
Dass es »Besserwisser« gab, noch dazu solche, »die auf einem ganz anderen Niveau herumgeturnt sind« als er, die ihn verunglimpft haben, das sei nun mal Teil des Systems. Er ärgert sich nur über die Journalisten, die es besser hätten wissen müssen: »Wenn ein Gewerkschaftsvertreter sagt: ›Der Mehdorn ist ein Rumpelstilzchen‹, wo ist denn da die Story?«, fragt er rhetorisch. Eigentlich hat er sie ja verstanden, die Medien und ihr Informationsbedürfnis. Seine PR-Leute haben sie vorbildlich bedient, findet er, mehr als tausend Presseinformationen im Jahr verschickt. Die »Verschlossene Auster«, den Preis für lausiges Kommunikationsverhalten, hat er dennoch bekommen. »Die Bahn hat einfach eine solch enorme Oberfläche, da gibt es immer irgendwo eine Geschichte. Und wenn in Bielefeld in der Bahnhofstoilette ein Wasserhahn tropfte, hieß es sofort, der Mehdorn hat den Laden nicht im Griff«, veranschaulicht er die Begleiterscheinungen der bis dahin vermutlich einzigartigen Personifizierung eines Unternehmens. Und zugleich sein Unverständnis über die unabdingbaren Irrationalitäten. »Es gab keine Überschriften, in denen mein Name nicht vorkam.« Irgendwann ist die Bahn der Bahn-Chef Mehdorn gewesen. Und damit jede Panne sein Versagen.
Er hat die Zeitungen kaum noch gelesen, wiegelt er die Kränkung ab: »Es war mir ein bisschen egal, was drinstand.« Interviews gibt er bis heute nur selten. Jedem gerecht zu werden und die eigenen Ansichten zu vermitteln, sei eine »Mission impossible«. Also lässt er es doch besser gleich.
Die Menschen sehen ihn ohnehin anders, wenn sie ihm persönlich begegnen, das ist fast immer so. Vor allem an Bahnhöfen kommen sie auf ihn zu und wollen ein Autogramm auf ihre Fahrkarte. Allesamt freundlich. Und dann wirkt er plötzlich ein kleines bisschen gerührt, als er zögerlich eine Geschichte preisgibt, die ihm kürzlich passierte. Er saß an einem Bahnhof in Münster und tippte auf seinem Laptop, als eine große blonde Frau auf ihn zukam. Sie sei eine ehemalige Kollegin, natürlich kenne er
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