Macht: Geschichten von Erfolg und Scheitern (German Edition)
Augenblick, als er von Peer Steinbrück erfuhr, dass Lehman nicht zu retten sei, wusste Hartmut Mehdorn, dass er diesen Auftrag nun nicht mehr erledigen wird. Dass ihn ein Ereignis an der Pflichterfüllung hinderte, das er selbst nicht beeinflussen konnte, hat ihm den Umgang damit erheblich erschwert. Noch heute zürnt er mit dem Akt höherer Gewalt, den er für ein Versagen der US-Politik hält. »Niemand konnte damit rechnen, dass die USA Lehman über den Deister gehen lässt«, schimpft er über die Stimmung in den Tagen, die die Bewertung seiner Amtszeit prägen wird. »Nur weil ein paar Amerikaner mit rauchenden Colts Politik machen wollten, ist der Finanzmarkt kollabiert. Das war ein Fehler, der in die Geschichte eingehen wird.« Eine historische Fehlentscheidung, die die Vollendung seines Werks torpedierte. Drunter macht er es nicht. Dass es Kritiker gibt, die den Börsengang schon vorher skeptisch gesehen, ihm eine Lebenswerkkrönung mit der Brechstange unterstellt haben, nennt er mit aufbrausendem Kniewippen einen »kapitalen Unsinn«. Einer wie er erfüllt nur seine Aufträge. Nicht mehr und nicht weniger.
Er hat noch versucht, die Situation mit einem »Private placement« zu retten und die geneigten Investoren mit einem Vorgriff auf einen Börsengang zum Kauf von Bahn-Aktien zu bewegen. Natürlich verbunden mit einem entsprechenden finanziellen Anreiz im Erfolgsfall. Aber dafür brauchte er eine Garantie der Bundesregierung. Angela Merkel, die den Börsengang einst mit großer Mehrheit in ihrem Kabinett beschlossen hatte, konnte sich nun, in Anbetracht des fragilen Finanzmarktes und noch dazu im Wahlkampf, »nicht mehr recht daran erinnern«. Da war klar, es würde auf absehbare Zeit keinen Börsengang geben. Die Ware stand im Schaufenster, »aber wer sollte für fünf Milliarden Euro Bahn-Aktien kaufen?«. Also habe er die Kanzlerin angerufen und ihr gesagt, »lass uns mit meinem Nachfolger reden«.
Seinen ehemaligen Büroleiter hatte er Angela Merkel schon frühzeitig empfohlen. Nach einem erfolgreichen Börsengang sollte der Staffelstab übergeben werden. Die Bücher, die er danach lesen wollte, hatte er sich schon zurechtgelegt. »Wenn man siebenundsechzig ist, kommt ein berufliches Ende nicht völlig überraschend«, sagt er trocken. Dass es noch einen unerquicklichen Datenskandal gab, mit dem sein Ende heute in den Zeitungsarchiven untrennbar verbunden ist, quittiert er mit einer abwertenden Handbewegung. Sein Abgang wurde bereits seit drei Monaten vorbereitet, die Gespräche mit der Bundesregierung und den Aufsichtsräten waren längst geführt. Wie so oft fühlt er sich missverstanden. In diesem Fall brauchte es ein Ermittlungsverfahren, das ihm letztlich recht gab. Er hat das Ende selbst gewählt, auch weil aus den bröckelnden Loyalitäten nun spürbare Steinschläge geworden waren.
Für den Tag, an dem er die Notbremse ziehen wollte, dachte er sich noch einen finalen Coup aus. Besprochen nur mit seiner Frau, die selbstverständlich auch diesmal mitzog. Nach wochenlangem Gezerre um seine Position verkündet er den Abschied am Tag der Bilanzpressekonferenz. Zusammen mit den »besten Zahlen ever«. Das ist seine Art auf Wiedersehen zu sagen. Dann ist er gegangen. Wohin? Er denkt nach Hause.
»Nein, ins Büro«, souffliert ihm sein ehemaliger Mitarbeiter, mit den engsten Kollegen. Wie die Stimmung gewesen ist? »Es war grabesstill«, so wiederum sein Wegbegleiter, »viele haben geweint.« An die Stille erinnert Hartmut Mehdorn sich jetzt, die war denkwürdig, ja. Und dass viele Menschen da waren, fünfhundert mindestens. Viele haben ihm gesagt, sie seien traurig, sogar Journalisten. »Das hätten sie mal vorher schreiben sollen«, spöttelt er über die kränkende Missachtung hinweg. »Aber klar, in einem so großen Laden gibt es auch sicher welche, die gesagt haben, gut, dass er weg ist«, schließt er seine Abschiedsepisode ohne jede Rührseligkeit.
Dann war er weg. Er ging nach Hause zu seiner Frau. Ein besonderer Abend sei es nicht gewesen, weder Erleichterung noch Traurigkeit habe er gespürt. Seinem Nachfolger hat er noch eine Liste mit hundert Punkten übergeben, auf die er achten solle. Er konnte ihn anrufen, wenn er seine Einschätzung wollte. Getan hat er es nicht. Aber das sei schon in Ordnung so: »Ich schaue nicht zurück.«
Auf dem Weg nach vorne ist er erst mal in den Urlaub nach Frankreich gefahren, in die Heimat seiner Frau. Für zwei Monate, ohne zu wissen, was danach kommt,
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