Macht: Geschichten von Erfolg und Scheitern (German Edition)
»Aber ich war nicht weisungsbefugt«, erklärt sie ihren gehemmten Umgang mit der zögerlichen Aufarbeitung. Die Bedeutung des Verbrechens für das Leben der Opfer war ihr sofort bewusst, als sie davon erfuhr. Das Potential des Briefes, ihre eigene Karriere zu zerstören, hat sie indes nicht erkannt: »Ich hatte alles getan, was in meiner Macht stand, ich fühlte mich nicht persönlich angeklagt.«
Das nächste Mal wird sie mit der Sache zwei Monate später konfrontiert, als der offene Brief in einer Hamburger Tageszeitung abgedruckt ist. Von da an wird es zu ihrer ganz persönlichen Angelegenheit.
Maria Jepsen habe von der Vorgeschichte des Pastors wie auch vom konkreten Missbrauchsfall gewusst, versicherte die Anklägerin, die Schwester eines Opfers, nun sinngemäß an Eides statt. Am Rande einer Veranstaltung habe sie die Bischöfin angesprochen. Nun sind wir mitten in der Geschichte um Verantwortung und Verantwortlichkeit und mit der Annäherung schrumpft ihr Ausdruck. Sie verzichtet jetzt auf jede Gestik und schnörkelhafte Beschreibung für die anhaltende Ungläubigkeit. Ihre Sätze sind Subjekt, Prädikat, Objekt. So, als habe der Fall keine Federung verdient. Und sie wirkt, als habe sie in all den Monaten der Verarbeitung keine Seelenfederung gefunden: »Als ich von der sinngemäßen eidesstattlichen Versicherung las, wusste ich: Jetzt bin ich dran.«
Verantwortung zu übernehmen, umso mehr in angemessener Form und zum rechten Zeitpunkt, ist eine Chance, der öffentlichen Zurschaustellung zu entgehen oder die Umkehrung vom Täter zum Opfer zu bewirken und gar kolossale Beliebtheit zu erreichen. Die persönliche Konsequenz wird in der Ausweglosigkeit zur integritätsrettenden Notwendigkeit. Im Innersten tobt die Auseinandersetzung unabhängig vom Abgangsapplaus weiter, wenn die Übernahme der Verantwortung nicht aus dem Gefühl der Verantwortlichkeit heraus entsteht. Wie bei Maria Jepsen. Vielleicht empfindet auch Margot Käßmann ihren Fauxpas erst in der Skandalisierung rücktrittswürdig, nicht aber in seiner Ursache. Und auch im gefeiertsten Rücktritt bleibt man am Ende allein mit der Leere, dem Verlust des Amtes, des Lebensinhaltes, der gewohnten Lebensumstände.
Sehr selten gibt es die unfreiwillige Ablösung, die mit dem Eingeständnis eigenen Fehlverhaltens, persönlicher Fehlentscheidungen, nachlassender Leistung oder überfordernder Anforderungen einhergeht. Häufig nagt die Introspektion weiter, wenn die Volksseele längst befriedet ist, weil sie die Klärung bekommen hat, die sie zu ihrer Beruhigung braucht, oder weil ein neues Thema in den Vordergrund gerückt ist.
An die Ansprache der jungen Frau am Rande einer Veranstaltung viele Jahre zuvor erinnert sich Maria Jepsen nicht. Vage nur rekonstruiert sie den flüchtigen Zuruf der zuständigen Pröbstin, einige Zeit später. Der Pastor sei auffällig im Kontakt mit Frauen, seine Eskapaden in Ahrensburg bekannt, das habe man ihr zugetragen. »Aber bei meinen Nachforschungen hat sich kein konkreter Hinweis ergeben.« Darauf hat sie vertraut.
Ob sie hartnäckiger hätte sein müssen, entschiedener Ergebnisse fordern? »Im Nachhinein gewiss«, gibt sie ohne Verzagtheit zu. Aber sie hat sich doch immer so intensiv beschäftigt mit dem Personal und vor allem mit den knapp tausend Pastoren in ihrem Hoheitsgebiet, die sogar bei ihr »antreten mussten«, ehe sie sich scheiden lassen durften. Umfassende Dossiers hat sie höchstselbst geführt. Aber diesen einen Pastor, den kannte sie nicht.
Dass andere in ihrer Kirche nicht annähernd so beflissen waren, vor allem diejenigen, die es hätten sein müssen, ihrer Aufklärungspflicht nicht nachgekommen sind, das macht sie zornig. Das Wissen darum vermag die wiederkehrenden, nagenden Fragen nicht zu vertreiben. Über die Gründe der Nachlässigkeiten will sie nicht spekulieren. Und schiebt verdrossen nach: »Vielleicht war es einfach Schlampigkeit.«
Die Vehemenz der Vorwürfe ihr gegenüber wird ihr erst im Gespräch mit Journalisten und durch den rauen Ton der Interviews bewusst. Sie suchte nach der eigenen Schuld und nach Solidarität in ihrem Umfeld. Und fand beides nicht. »Ich war tagelang in der Bredouille, aber ich spürte niemanden, der hinter mir stand.« Dass es die Angst vor der eigenen Rechenschaft war, die die Verantwortlichen zum Schweigen und Verdrücken veranlasste, kann sie nicht tröstlich stimmen. Sie hat Rückgrat erwartet, Haltung und Reue von denjenigen, die schuldig waren. So,
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