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Macht Musik schlau?

Macht Musik schlau?

Titel: Macht Musik schlau? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz Jäncke
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Wesentlichen deckungsgleich mit dem «körperlichen Zugang» und ist am Besten charakterisierbar durch das Tanzen. Wenn also ein «motorischer» Hörzugang gewählt wird, könnte Tanzen oder auch Schunkeln im Vordergrund stehen. Das «distanzierte Hören» ist konzeptuell dem «geistig-intellektuellen» Zugang ähnlich, bei dem die Analyse der Musikstruktur im Vordergrund steht. Die dargestellten Einteilungen von Hörgewohnheiten und Zugängen zur Musik sind zweifellos sehr interessant. Man darf allerdings nicht außer Acht lassen, dass diese Untersuchung auf Befragungsdaten Jugendlicher beruht und nicht gesichert ist, dass diese Hörgewohnheiten auch bei Erwachsenen in gleicher Form wirksam sind. Es kann allerdings vermutet werden, dass auch Erwachsene die gleichen Hörgewohnheiten haben, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß und in unterschiedlicher Kombination.
    Ein wesentliches methodisches Problem sehe ich darin, dass Jugendliche mit einem mehr oder weniger abstrakten Fragebogen (31 Fragen umfassend) über ihre Musikhörgewohnheiten befragt wurden. Dies erfordert erhebliche kognitive Fertigkeiten und bewusste Einsicht in emotionale Prozesse, was auch bei Erwachsenen nicht immer gegeben ist. Insofern ist es durchaus möglich, ja sogar sehr wahrscheinlich, dass die verbalen Äußerungen der Jugendlichen nicht unbedingt mit ihren emotionalen Reaktionen übereinstimmen. Dies ist ein altbekanntes Phänomen der Emotionspsychologie und auch in der Musikpsychologie bestens bekannt. Wir sehen dies auch in unseren eigenen Experimenten in besonders starker Ausprägung, wenn die bewusste kognitive Ebene quasi durch soziale Regeln dominiert wird und das Erleben von Gefühlen mit den Regeln nicht mehr übereinstimmt. Ein typisches Beispiel ist, wenn ein Jugendlicher der Meinung ist, dass Hip-Hop-Musik schön ist, aber neurophysiologische (z.B. Hirnaktivierungen) und physiologische (z.B. Erregungen des vegetativen Nervensystems) Reaktionen zeigt, die eher vermuten lassen, dass er die Musik eigentlich ablehnt. Ähnliches sieht man im Labor gelegentlich auch bei «Liebhabern» klassischer Musik, deren neurophysiologische und physiologische Reaktionen eher vermuten lassen, dass sie klassische Musik überhaupt nicht mögen. Ein extremes Beispiel konnten wir bei einem Patienten feststellen, der als angeborener Amusiker diagnostiziert worden war. Solche Patienten können von Geburt an teilweise selbst einfache Musikelemente nicht erkennen. Dieser Amusiker war allerdings der Meinung, dass er klassische Musik «liebe», obwohl er gar nicht in der Lage war, einzelne Töneoder Rhythmen wahrzunehmen. Er hatte offenbar als Bildungsbürger gelernt, dass klassische Musik für einen gebildeten Menschen «schön» und «angenehm» zu sein hat.
    Wenn also die unterschiedlichen Hörgewohnheiten genauer betrachtet werden, so muss man zu dem Schluss kommen, dass die meisten Gewohnheiten im Zusammenhang mit emotionalen Zugängen zu sehen sind (kompensatorisch, vegetativ, assoziativ, motorisch, sentimental). Allerdings kann die jeweilige emotionale Wirkung durch die unterschiedlichen Hörgewohnheiten moduliert werden. So ist sogar vorstellbar, dass ein Hörer aufgrund seiner Bildung, seines sozialen und kulturellen Hintergrundes und seiner Persönlichkeit bestimmte Hörgewohnheiten grundsätzlich bevorzugt und andere weniger häufig und intensiv einsetzt. Insofern ist sogar vorstellbar, dass jeder sein eigenes Potpourri von Hörgewohnheiten hat, um Musik zu hören. Trotzdem muss bedacht werden, dass die Wahl der jeweiligen Hörzugänge auch sehr stark situationsabhängig ist.
    In diesem Zusammenhang muss festgehalten werden, dass derzeit keine Befunde vorliegen, die nahelegen, dass eine bestimmte Musikkategorie (z.B. Klassik, Jazz, Pop) grundsätzlich einen bestimmten Hörzugang «erzwingt». Man muss vielmehr feststellen, dass die jeweilige Musikkategorie bzw. das Musikgenre nicht den Rezeptionsmodus bestimmt, was sich unter anderem darin zeigt, dass dieselbe Musik von verschiedenen Personen ganz unterschiedlich wahrgenommen und erlebt werden kann. Dies gilt mit großer Wahrscheinlichkeit für die klassische Musik, von der ja in unserem Kultur- und Bildungskreis gerne angenommen wird, dass sie eher intellektuell stimulierend sei und deshalb auch entsprechende Hörgewohnheiten oder Hörzugänge (nämlich

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