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Macht Musik schlau?

Macht Musik schlau?

Titel: Macht Musik schlau? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz Jäncke
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(10 Sekunden lang). Danach folgte eine Liste von mehreren Wörtern, aus denen sie jenes auszuwählen hatten, dass am ehesten eine semantische Beziehung zur vorher gespielten Musik aufwies. So konnten sie Musikstücke als Primes für das eigentliche Hauptexperiment auswählen. Die Musikausschnitte waren den Versuchspersonen nicht bekannt. Die Forscher haben beispielsweise Musikstücke gewählt, die eine enge Beziehung zum semantischen Konzept «Fluss» oder «Nadel» aufwiesen. Im Rahmen einer weiteren Versuchsbedingung, die als Kontrollbedingung angelegt wurde, kamen auch Sätze zur Anwendung, mit denen sehr leicht die entsprechenden semantischen Netzwerke aktiviert werden können. Die EEG-Analysen dieses Experimentes brachten etwas sehr Erstaunliches zutage. Wurden die «richtigen» Musikausschnitte als Primes eingesetzt, reduzierte sich die N400-Amplitude des evozierten Potenzials auf die nachfolgenden Zielwörter. Bestand kein semantischer Bezug zwischen dem Musikausschnitt, der als Prime verwendet wurde, und dem nachfolgenden Wort, war die N400-Amplitude wesentlich größer. Dieses Ergebnis entspricht ziemlich genau jenem, das man in klassischen Prime-Zielwort-Experimenten erhält, in denen Sätze als Primes verwendet werden.
    Interessant ist auch, dass diese Hirnreaktion (die N400) auf durch Musik oder Sätze «vorgewärmte» Zielwörter identisch war. Auch Quellanalysen, die es ermöglichen, die Hirngebiete zu identifizieren, welche die N400 generieren, ergeben ein konsistentes Bild: Diese semantischen Analysen werden im Schläfenlappen genauer im Gyrus temporalis medius (in der Nähe zum Sulcus temporalis superior) in beiden Hemisphären durchgeführt. Aus verschiedenen anderen Untersuchungen weiß man, dass diese Region an der semantischen Analyse und der Speicherung von semantischen Informationen beteiligt ist.
    Das Ergebnis ist schon erstaunlich und von einiger Brisanz. Musikausschnitte können also bestimmte semantische Netzwerke «vorwärmen». Wenn dem so ist und dies in nachfolgenden Experimenten bestätigt werden kann, könnten Musikstücke zur Reaktivierung von semantischen Netzwerken bei Aphasikern, Menschen mit Schädel-Hirn-Trauma oderbei solchen, die an Amnesie leiden, eingesetzt werden. Viel wichtiger als die möglichen praktischen Anwendungsmöglichkeiten, die sich aus diesem Befund ergeben, ist die theoretische Tragweite. Musik und Semantik sind offenbar viel enger miteinander gekoppelt, als man bislang annahm. Vielleicht sind Musik und Sprache ja wirklich nur Geschwister ein und derselben gemeinsamen Familie und haben trotz vieler Unterschiede auch einige markante Gemeinsamkeiten.
    Wie «knüpft» denn Musik eigentlich Beziehungen zum semantischen Netzwerk? Das geschieht wahrscheinlich auf vier unterschiedliche «Wegen»:
    1.   Musik ist bekanntlich sehr stark mit Emotionen gekoppelt. Diese Emotionen können dann Bestandteil der «Abrufstruktur» für ganz bestimmte Informationen sein. Anders ausgedrückt könnte eine bestimmte Emotion (z.B. Freude) mit einem ganz bestimmten semantischen Netzwerk gekoppelt sein. Dies könnte z.B. neben vielen anderen das semantische Netzwerk «Natur» sein. Dort sind viele Fakteninformationen über Bäume, Wiesen, Tiere und Landschaftsaspekte miteinander verzahnt abgespeichert. Wenn Sie also Freude empfinden, wird vielleicht das semantische Netzwerk «Natur» aktiviert, und Sie haben schneller Zugriff auf diese Informationen. Die spezifische Struktur der jeweiligen semantischen Netzwerke ist sehr individuell. Das bedeutet, dass wir je nach unseren individuellen Erfahrungen unterschiedliche Inhalte miteinander koppeln können.
    2.   Bestimmte Musikstücke, Töne, Klänge oder Klangsequenzen scheinen automatisch semantische Ähnlichkeiten zu Objekten hervorzurufen. Tiefe brummige Laute könnten mit großen Tieren (z.B. Bären) gekoppelt sein. Oder schnelle und hohe Klänge mit einem eher «spitzen» Klang könnten scharfen Gegenständen wie Messern zugeordnet werden.
    3.   Semantische Bedeutung kann auch implizit gelernt werden. Wir erleben dies typischerweise mit der Nationalhymne, welche für viele Menschen identitätsstiftende Bedeutung hat.
    4.   Bedeutung kann auch durch eine Kombination von formalen Musikelementen entstehen, die z.B. Spannung erzeugen kann.
    11.5
    Klingt

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