Macht Musik schlau?
dass der negative Befund für die visuellen Gedächtnisleistungen nicht spezifisch für den verwendeten Test waren, haben die Autoren die visuellen Gedächtnisfertigkeiten noch mittels eines weiteren Standardtests zur Ãberprüfung des visuellen Gedächtnisses überprüft (Rey-Osterreit-Test). Auch in diesem Test zeigte sich kein Unterschied in der visuellen Gedächtnisleistung zwischen den beiden Versuchsgruppen.
Andrea Kilgour und ihre Kollegen von der
Queens University
in Ontario haben einen ähnlichen Befund beigetragen (Kilgour, Jakobson und Cuddy, 2000). Diese Arbeit war nicht prinzipiell dazu konzipiert worden, um herauszufinden, ob Musiker und Nichtmusiker sich im Hinblick auf verbale Gedächtnisleistungen unterscheiden. Es ging in dieser Studie vorrangig darum, herauszufinden, warum gesungene Verse häufig besser behalten werden als gesprochene. Dies ist ein schon seit längerem bekanntes Phänomen, das allerdings noch nicht besonders überzeugend erklärt werden kann. Ausgehend von der Hypothese, dass gesungene Verse möglicherweise mehr zusätzliche Informationen zum
Enkodieren
(speichern und in das Gedächtnis einsortieren) der sprachlichen Informationen bieten und dass Musiker diese zusätzlichen Informationen (Rhythmus und Melodie) besser abrufen können, haben die Autoren eine Serie von drei umfangreichen Experimenten durchgeführt, in denen sie insgesamt 238 gesunde Versuchspersonen untersucht haben. Die Hälfte waren Personen mit intensiver Musikerfahrung. ImDurchschnitt hatten sie rund 10,5 Jahre formalen (= praktischen und theoretischen) Musikunterricht erhalten und mindestens den Abschluss
Grade VIII Level
des
Royal Conservatory
erzielt. Das Prinzip der Experimente bestand darin, den Versuchspersonen ein oder zwei Verse von Liedern entweder vorzusingen oder vorzusprechen. In zwei der drei Experimente wurde die Darbietungsrate (präsentierte Wörter pro Zeiteinheit) für die gesungene und gesprochene Präsentation angeglichen. Es zeigte sich, dass bei Angleichung der Darbietungsrate der Vorteil der gesungenen Präsentation im Hinblick auf die spätere Gedächtnisleistung verlorengeht. Das heiÃt, dass die Versuchspersonen unabhängig davon, ob die Verse gesungen oder gesprochen wurden, sich an genau gleich viele Wörter erinnern konnten.
Abbildung 15: Zusammenfassung der Befunde von Chan und Kollegen (1998). Dargestellt sind die Gedächtnisleistungen in verbalen und visuellen Gedächtnistests jeweils zu unterschiedlichen Zeitpunkten (t1, t2 und t3) nach dem Lernen getrennt für die Personen mit (Musiker) und ohne (Nichtmusiker) Musikerfahrung. Die waagerechten Pfeile bezeichnen statistisch signifikante Unterschiede hinsichtlich der Gedächtnisleistung zwischen Musikern und Nichtmusikern.
Für das vorliegende Buch ist allerdings ein Nebenbefund besonders interessant. Die kanadischen Kollegen konnten nämlich zeigen, dass die Musiker konsistent bessere verbale Gedächtnisleistungen erbrachten, als diejenigen Versuchspersonen ohne formale Musikausbildung. Dieser Gedächtnisvorteil konnte für gesungene und gesprochene Verse festgestellt werden (s. Abb. 16 ). Die Autoren können sich diesen konsistenten und hoch signifikanten Effekt nicht erklären, aber er ist vor allem wegen der doch groÃen Anzahl der Versuchspersonen und der Konsistenz mit den Befunden von Chan und Kollegen bemerkenswert.
In Ergänzung zur ersten Studie hat die chinesische Gruppe von der
Hong Kong University
2003 eine weitere Untersuchung publiziert, um den Zusammenhang zwischen guten verbalen Gedächtnisleistungen und Musikausbildung näher zu untersuchen (Ho, Cheung und Chan, 2003). In Ergänzung zur ersten Studie wurden 90 Kinder und Jugendliche im Alter von 6 bis 15 Jahren (mittleres Alter 10,9 Jahre) untersucht. AlleKinder nahmen freiwillig an dieser Untersuchung teil und waren Grund- und Oberschüler aus Hongkong. Fünfundvierzig Teilnehmer genossen eine formale Musikausbildung und waren unter anderem Mitglieder verschiedener Musikbands. Die meisten spielten seit mindestens einem Jahr entweder Flöte oder Geige und erhielten mindestens eine Stunde pro Woche Musikunterricht von einem anerkannten Musiklehrer der
Hong Kong Academy for Performing Arts
. Zum Zeitpunkt der Untersuchung hatten diese Kinder und Jugendlichen bereits zwischen einem und fünf Jahren Musiktraining absolviert (mittlere Musiktrainingsdauer zwei
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