Macht nichts, Darling
Ford hat mir eure Begegnung in der Teestube haarklein geschildert, und der Rest war nicht schwer zu erraten. Die gute Sally! Immer hilfsbereit, ohne Rücksicht auf Verluste! Als ob ich mir weismachen ließe, daß ihr wirklich verlobt seid. Das wäre ja ein kompletter Unsinn.«
Simon regierte auf die letzte Bemerkung unlogischerweise leicht gereizt. »Wieso wäre es so ein Unsinn? Sally kann recht anziehend sein, und wir kennen uns seit einer Ewigkeit.«
»Das ist es ja eben. Viel zu lange. Aus Kinderfreundschaften wird selten mehr als ein Bruder-und-Schwester-Verhältnis. Du behandelst sie auch dementsprechend, ganz im Gegensatz zu diesem stattlichen Mr. Davenport zum Beispiel... Man sieht den Unterschied auf den ersten Blick...« Hier verlor sich Tante Dorothys Rede in unbestimmtem Gemurmel, und Simon brachte außer einer Bemerkung über die mutmaßliche Länge von Onkel Aloysius’ Besuch nichts mehr aus ihr heraus.
»Hoffentlich macht sich das arme Kind seinetwegen nicht zuviel Sorgen. Wieder eine Last mehr. Ein Glück, daß sie sich nie lange niederdrücken läßt.«
Dies traf genau zu. Das arme Kind leistete sich im gleichen Moment den unnötigen Luxus eines Telefonanrufs bei Alice, nur um ihr folgendes mitzuteilen:
»Du kannst Trevor sagen, daß er ein Prophet ist. Er hat auf grausige Weise recht behalten. Auch das zweite Küken hat ins Nest gefunden. Onkel Aloysius ist hier!«
9
Er ähnelte in keiner Weise, wie Sally mit einem einzigen erschrockenen Blick feststellte, dem gemütlichen Sandmännchen, sondern eher dem bösen Wolf im Kinderbuch. Onkel Aloysius war eine lange, gebeugte, grauhaarige Gestalt mit mürrischem Gesichtsausdruck. Kein ermutigender Anblick, dachte Sally, als sie in der Hotelhalle auf ihn zutrat. Sie hatte ihn eigentlich mit einer warmen Umarmung begrüßen wollen, aber es war unvorstellbar, daß irgend jemand Onkel Aloysius umarmen oder gar küssen konnte. Desillusionierend wirkte auch die Tatsache, daß er dem Hotelportier gerade laut und nachdrücklich erklärte, er gebe grundsätzlich keine Trinkgelder; diese stellten in seinen Augen eine Beleidigung der Menschenwürde dar. Der Portier hörte sich den Vortrag mit ironischem Lächeln an, und Sally hatte das peinliche Gefühl, daß er eine solche Beleidigung ohne weiteres eingesteckt hätte.
Nachdem dies erledigt war, wandte Aloysius sich seiner Großnichte zu und bemerkte säuerlich, sie habe sich um zehn Minuten verspätet und ihm unnötige Sorge verursacht. Sally murmelte halbbetäubt (denn wie konnte dieser Mann an Märchenwesen glauben?) eine Entschuldigung und führte ihn hinaus zum Wagen.
Wenigstens war Onkel Aloysius sehr aufrichtig, wie ihr während der Heimfahrt klar wurde. Er gab nicht eine Sekunde vor, daß die Stimme des Blutes ihn zu seiner Nichte gezogen hätte, sondern betonte von vornherein den wissenschaftlichen Hauptzweck seiner Reise. Die Forschungsgesellschaft, zu deren erlauchtesten Mitgliedern er offenbar gehörte, hatte ihm den Auftrag erteilt, den Berichten der neuseeländischen »Ureinwohner« — damit meinte er die Maoris — über die Anwesenheit des »kleinen Volks« in ihren Wäldern auf den Grund zu gehen.
Sally war durch die langjährige Korrespondenz sattsam unterrichtet, daß das »kleine Volk« kein unentdeckter Pygmäenstamm, sondern das vielverzweigte Volk der Feen, Elfen, Zwerge, Trolle und so weiter sein sollte, bestritt aber energisch, daß hier solche Gerüchte kursierten. Auch hätte sie persönlich noch nie eine Elfe gesehen und müsse sich deshalb darauf beschränken, ihm für seine Forschungen Glück zu wünschen.
Im Laufe des ebenso hartnäckigen wie mißmutigen Kreuzverhörs, dem Onkel Aloysius sie unterzog, erkannte Sally immer deutlicher, wie irrig all ihre Vorstellungen von ihm gewesen waren. Ein bißchen verrückt hatte sie ihn sich zwar gedacht, aber auf kindlich-liebenswerte und rührende Art. Dieser schrullige Greis dagegen war ihr ein Rätsel, und leider kein erfreuliches. Allem Anschein nach war er ziemlich hart, kleinlich und verbohrt. Der Glaube an Übernatürliches war seine einzige menschliche Schwäche — soweit man in diesem Fall von menschlich und schwach reden konnte.
Der mildernde Umstand, an den Sally sich zunächst hielt, war, daß er sehr wenig Gepäck mit sich führte. Das deutete nicht auf einen »unbegrenzten Aufenthalt«. Aber ihre Hoffnungen sanken jäh in sich zusammen, als Aloysius Leigh ohne Umschweife erklärte, er werde so lange bei
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