Macht: Thriller (German Edition)
und konzentrierte sich auf Nimrods Entourage. »Kriegen Sie das jetzt bitte nicht wieder in den falschen Hals.« Sie winkte die Asiatin näher zu sich. »Diese Bauarbeiter, die sich vor Nimrod in den Staub werfen, was machen die da? Diese Körperhaltung, die Handbewegungen. Das sieht für mich aus wie ein Kotau.«
»Wissen Sie, was ihr Begleiter vorhin über die Ostindienfahrer gesagt hat, das ist Anderen auch schon aufgefallen.« Die Studentin lockerte ihre Arme. »Die Bauleute vollführen offenbar tatsächlich einen Kotau. Die Holländer haben den Kotau in ihren Reiseberichten erwähnt. Sie sind von den Chinesen mit der Demutsbezeugung vor den Kopf gestoßen worden. Ein vergleichbares Ritual gab es in Europa nicht. Zumindest nicht in den Niederlanden. Die Insel, die Schiffe und der Kotau haben einige Kunsthistoriker zu der These motiviert, Bruegel verortet den Großen Turmbau nicht in Antwerpen, sondern in Asien. Auf einer Insel im Indischen Ozean. – Aber das erwähne ich in meinen Führungen nie. Zu spekulativ, sie verstehen.«
»Schade.« Josephines Blick blieb an dem Gesicht des Mannes rechts neben Nimrod hängen. Dieses Gesicht, der Ausdruck. Auf den Reproduktionen war das gar nicht richtig zu erkennen gewesen. Wie der guckte, den Mund halbgeöffnet. Bruegel hatte den Mann gemalt wie einen Menschen mit Down-Syndrom. Die Männer und Frauen mit Trisomie 21 wurden an Herrscherhöfen oft und gern als so genannte natürliche Narren beschäftigt, im krassen Gegensatz zu den künstlichen , die sich geschickt dumm stellten. »König, Narr und Bettler!« Josephine stockte der Atem. Sie streckte den Arm nach Gernot aus und umklammerte seine Hand. Genau wie in ihrem Traum von den drei Skeletten im AKH!
» What the …? « Thorpe verdrängte Josephine und untersuchte die Figuren. Jesus! Er schreckte von dem Gemälde zurück und erblasste. Das Bild war fast dreihundert Jahre älter als alles, was er bisher gesehen hatte.
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G ernot blieb der Mund offen. Das hatte er hinter der unscheinbaren Tür nicht erwartet. Die Unzahl von Archivschachteln. Die Eisensäulen. Die Träger durchmaßen das Gebäude scheinbar vom Fundament bis zur Dachtraufe. Die Etagen und Regale, alles lastete auf ihnen. Gernot berührte die Nietenköpfe und Ornamente. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Das war wie auf dem Set eines Steampunk -Filmes. Er war bloßes Versatzstück in der Kulisse im Stil des Retro-Futurismus. Wären jetzt Jules Verne, Hellboy oder Van Helsing um die Ecke gebogen, er hätte sich nicht gewundert. Er drückte Josephines Hand. Nein! Das hier war besser. Das war echt. Das war alt.
Josephine rang mit dem Schwindel. Sie hielt Gernots Hand fest und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Sie konnte durch das Metallgitter unter ihren Füßen auf das untere Stockwerk sehen, durch das über ihrem Kopf in das obere. Gerade hatte sie sich noch gefragt, wie König, Narr und Bettler in ihr Gedächtnis geschlüpft waren, jetzt kam sie sich selbst wie ein Parasit auf der Reise durch das Wirtsgehirn vor. Gernot, Wotruba, Udo, Thorpe und sie wanderten durch das Hirn der Monarchie. Durch die Akten und Archivregale des Haus-, Hof- und Staatsarchivs. Durch den Hohlraum hinter der Barockfassade an der Rückseite des fünfeckigen Bundeskanzleramtes, in dem das Wissen, die Bürokratie und die Rätsel und Wunder des alten Österreichs lagerten. Josephine erwartete jeden Moment, dass der Wirtskörper erwachte und sich gegen ihr Eindringen zur Wehr setzte. Aber alles blieb ruhig, totenstill. Isolde Diem marschierte voran, zielstrebig und unbeirrbar. Die Frau vermittelte Josephine den Eindruck, jeden Zentimeter, jeden Fetzen Papier in den Schachteln und Schränken zu kennen. Diem lebte in und mit diesem Organismus. Sie war zu einem Teil davon geworden.
»Also wissen Sie, Inspektor«, sagte Diem und rasselte mit ihrem Schlüsselbund. »Wenn ich gewusst hätte, dass Sie zu fünft anrücken, hätte ich einen Kollegen gebeten, länger zu bleiben. – Wie soll ich denn da den Überblick behalten? Die Benutzer dürfen hier sonst gar nicht rein.«
»Haha! Wir sind auch ganz brav!« Udo versuchte, so nah wie möglich an Pfeilern und Regalen zu bleiben. »Wie schaffen Sie es überhaupt, hier drinnen den Überblick zu behalten?«
Diem kicherte. »Ich weiß, was Sie meinen. – Die ständigen Anfragen, die können einen schon fertig machen. Aber man gewöhnt sich ja bekanntlich an alles.«
»Also eigentlich, dachte ich an etwas anderes …«
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