Macht: Thriller (German Edition)
nach der Bestie hatten den jungen Adolph Knigge in ihren Bann gezogen. Kein einziges Journal hatte er versäumen wollen. »Mademoiselle, ihr gestattet, dass ich euch wie folgt berichte«, begann er wunderbar um die beiden Jahrzehnte verjüngt. »Es begab sich zwei Monate nachdem Kaiser Joseph im Dom Sankt Bartholomäus zu Frankfurt am Main zum deutschen König gekrönt worden ist: Ein Tier streifte durch die einsamen Berge der Auvergne, getrieben von Mordlust und Blutgier. Eine Kreatur, die in den kommenden drei Jahren einhundertzwei junge Frauenzimmer und halbwüchsige Knaben zerfleischt hat.« Knigge nahm einen Schluck Rotwein und beobachtete das Erbleichen der Damen und die Verblüffung der Herren. »Die Bestie hat sich nach wilder Hatz, an der die königlichen Leibjäger des Königs und ein ganzes Bataillon Soldaten teilgenommen hatten, als enormer Wolf erwiesen.« Er hob den Zeigefinger. »Indes, und groß war das Entsetzen am königlichen Hof zu Versailles, es war kein gewöhnlicher Isegrim, den die Jäger ihrem Louis Quinze zu Füßen legten. O nein. Kein Geschöpf des Allmächtigen –«
»War es ein Werwolf? Ein Teufel?« Das garstige Fräulein schreckte hoch und bekreuzigte sich.
»Es war Menschenwerk«, antwortete Knigge. »Ein Hybrid aus Hund und Wolf, auf das Töten abgerichtet. Vielleicht auch mit Hyänenahnen im Stammbaum, wer weiß das schon genau. Vergraben und verrottet sind die Überreste in den Gärten von Versailles. Sie sind verloren für Vernunft und Wissenschaft.« Der Freiherr schloss die Augen und nickte. Knigge spürte die Blicke der Gesellschaft auf sich.
Weishaupt ließ ein leises Schnaufen hören, der Freiherr reüssierte auf dem von ihm gewählten Terrain.
Knigge unterdrückte die zufriedene Miene und öffnete die Augen. »Kein Ungeheuer wirkte in der Auvergne, nicht höhere Gewalt. Nein! Eines Menschen Witz gebar das Untier und brachte dem Geschöpf den Tod. Der Nährvater selbst hat sein Gezücht erlegt! Doch dem Mann ward keine Schuld bewiesen, so dass er – zwar von König Ludwig unbelohnt – jedoch als freier Mann seiner Wege ziehen konnte.«
»Der Allmächtige steh uns bei, solche Geschichten sind mir noch nie zu Ohren gekommen.« Das kleine, garstige Fräulein weitete die Augen und legte eine Hand auf die Brust. Ein Mensch, der eine neue Tierart erschaffen konnte, um seinesgleichen zu morden? Welch gottlose Blasphemie! Die ehrwürdigen Klosterschwestern hatten ihr viel Nützliches beigebracht wie Reflektion, Gebet und Sticken, aber von solchen Verirrungen der Welt war sie – Gott sei Lob und Dank! – behütet und verschont geblieben.
»Es ist kein Wunder«, sagte Knigge. »Sie waren damals noch ein Kind.«
Das Fräulein strahlte und berührte Knigges Arm. Sie freute sich innig, dass der charmante Freiherr sie für so jung hielt. Zu dumm, dass er schon mit einer von ihm gekränkten hessischen Hofdame vermählt worden war.
Sie hätte mich wegen dieser niedrigen Schmeichelei verachten sollen, dachte Knigge. Die ganze Mahlzeit hindurch hatte er sich nur mit der lieblichen jungen Dame an seiner Rechten unterhalten. Und dies einzige Wort erwarb ihm die günstige Meinung des kleinen Wesens. Knigge prostete dem Fräulein zu und schluckte von dem Roten. Wie leicht hätte er einen Gegenstand zu einem Gespräche mit ihr finden können, das ihr auf irgendeine Weise interessant gewesen wäre! Und es wäre seine Pflicht gewesen, daran zu denken und ihr nicht eine ganze Abendgesellschaft hindurch die Tür der Unterhaltung zu verschließen. Knigge schloss die Finger um sein Taschentuch. Jene elende Schmeichelei war eine unwürdige Art gewesen, den ersten Fehler zu verbessern. So durfte der Umgang mit Menschen nicht erfolgen. »Verzeiht, mich rufen noch Obliegenheiten«, sagte Knigge und stand auf. »Geschäfte.«
»Zu dieser späten Stunde, Freiherr?« Die liebliche junge Dame ergriff Knigges Arm und schlug die Wimpern auf.
Weishaupt registrierte die Bewegung an der Tafel. Der Professor blinzelte und machte Knigge Gesten.
»Kein Geschäft, kein Gewinn kann süßer sein als eure Gegenwart, meine Teure.« Knigge ignorierte die Zeichen Weishaupts und beugte sich zu der jungen Dame. Er berührte die zarte Hand sacht mit den Lippen und machte einen Kratzfuß. »Verzeiht mir! Doch die Gelegenheit ist günstig. Wenn ich Kairos heute nicht am Schopfe packe, entfliegt mir der gelockte Jüngling und kommt nie wieder.«
»So greift nach dem flüchtigen Gott und lasst die Nymphe ziehen.«
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