Macht: Thriller (German Edition)
den Brausestrahl und ließ die Schultern hängen. Wenigstens der Laden am Fleischmarkt lag in angemessener Nachbarschaft. Ein Schauer schüttelte ihn. Nein! Er war mehr als ein Schatten an der Wand. Udo hatte das Licht gesehen. Das Licht am Ende des Tunnels. Und es war nicht die Grubenlampe von Alexei Grigorjewitsch Stachanow, dem Helden der Arbeit.
Ein chinesischer Tempelgong hallte durch die Wohnung. Das Handy auf dem Küchentisch leuchtete. Hätte sich Udo wie die Mehrheit der Onlinekunden für den Klingelton Stille, weil Schweigen der lauteste Schrei ist entscheiden, er hätte den Anruf verpasst.
62
J osephine strich über Oberschenkel und Hüfte. Die Haut der Frau war samtmatt und blass. Das Tintenblau der Tattoos an Schultern und Armen wirkte, als wären die Ornamente vor längerer Zeit gestochen worden. Josephine war von der Handwerkskunst beeindruckt. Sie konnte gut verstehen, wie die Gespielin Typen um den Finger wickeln und ihnen den letzten Cent aus dem Kreuz leiern konnte. »Wie viel kostest du, Schätzchen?«, fragte sie sanft und stellte die zirka vierzig Zentimeter hohe Figur zu den anderen ins Regal zurück. Man(n) blätterte für Statuetten dieser Qualität bestimmt einige Scheine auf den Ladentisch. Josephine machte einen Schritt zurück und legte die Hände in die Hüften. »Gibt’s die eigentlich immer nur in halbnackt mit Wallehaar und Körbchengröße Doppel-D?«
»Gnädigste, was haben Sie denn erwartet? Das ist die Wichsothek vulgo das Büro vom Mitterlechner«, antwortete Wotruba und hielt der Frau Doktor eine Spielfigur hin. »Wenn Sie die Großen mögen, werden Sie die Kleine lieben.« Dem Chefinspektor war die winzige Blonde aus dem Brettspiel sympathisch. Auf jeden Fall mehr als die vieläugigen Kopffüßler und Röhrenwürmer, die sonst noch zum Personal der Villen des Wahnsinns gehörten und auch ihren Anstrich bekommen hatten. Widerliches Viehzeug.
Josephine stellte den Plastiksockel auf ihre Handfläche und hob sich die Spielfigur vor das Gesicht. Die Blonde trug Bolero und kurzen Wickelrock, streckte das Spielbein vor und bedeckte mit dem rechten Arm die nackten Brüste. Sie runzelte die Stirn und gab Wotruba das Spielzeug zurück. »Wen stellt das Minibusenwunder dar?«
»Laut Beschreibung eine Hexe«, erklärte der Chefinspektor. »Nach den Farbabdrücken in den Handflächen vom Mitterlechner zu schließen, hat er die Figur bei oder unmittelbar vor seinem Tod in der Hand gehabt.«
»Eine Hexe?!« Josephine zog die Augenbrauen hoch. »Klar, erkennt man ja sofort. Für Männer, die innerlich im Pubertätsalter stecken geblieben sind, sind Frauen immer nur Mutti oder Sexobjekt.« Sie schüttelte den Kopf. Die Hexen, die sie sich in ihrer Fantasie vorstellte, waren zwar nicht hässlich, aber sie waren rothaarig, trugen spitze schwarze Hüte und Ringelstrümpfe.
»Josi, du solltest deine Expertise vielleicht nicht so herausposaunen«, gab Gernot zu bedenken und blätterte in der Gebrauchsanweisung des Fantasy-Brettspiels. »Nebenan sind die Freundin und die Mutter von dem Ermordeten … Und nein, dem Manual zufolge sind die Hexen in dem Spiel schwarzhaarig. Die Blonde ist Mitterlechners Eigenkreation. – Der Plot der Spielszenarien klingt allerdings gar nicht uninteressant. Die Stories basieren auf den Geschichten von H. P. Lovecraft. Ort des Geschehens ist die fiktive neuenglische Stadt Arkham in den späten Neunzehnzwanzigern.« Szombathy ließ das Heft sinken und zupfte sich am Bart. » Arkham-Asylum , kommt das nicht auch bei Batman vor?«
Josephine spitzte die Ohren. »Du meinst Howard Phillips Lovecraft, den amerikanischen Schriftsteller? Den Schöpfer des Cthulhu -Mythos?«
»Ja. So steht das jedenfalls da«, antwortete Gernot. »Ich kenn nur den Metallica Song › The Call of Ktulu ‹ und die South Park -Folge, in der Calamari-Kopf Cthulhu von Cartman geritten Justin Bieber killt.«
»Krass!« Josephine setzte sich an den Rand des Beistelltisches, schob die Plastikbiester hin und her und beäugte die Tentakel. »Der Schlaf der Vernunft gebiert Monster.« Sie musste an die Radierung Goyas in der Archivschachtel denken. Bei Goya waren die Ungetüme noch Eulen gewesen, keine amorphen Oktopoden. »Lovecraft hat in seiner weird fiction die Existenz von überlegenen außerirdischen Rassen und Gottheiten behauptet. Ein paar Leute haben die frei erfundenen Mythen für bare Münze genommen, andre Autoren haben sie erweitert. Die Wesen der Schatten- und Traumwelt sind in
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