Macht: Thriller (German Edition)
hinein und öffnete die Augen. » Und der Haifisch, der hat Zähne, und die trägt er im Gesicht … « Sie grinste, nahm den Telefonhörer ab und verlangte eine abhörsichere Verbindung.
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11. September 2001
J osephine rieb sich die Augen und gähnte. Die Buchstaben waren Zeile für Zeile zerronnen. Sie brütete jetzt schon seit fünf Stunden über der Grammatologie von Jacques Derrida und zerbrach sich den Kopf, was die Frage gewesen war, auf die dieses Buch die Antwort gab. Sie legte Bleistift und Textmarker weg und streckte sich. Andere Studenten saßen an den Arbeitsplätzen des Lesesaals über Bücher gebeugt und schrieben die Seiten karierter Collegeblocks voll. Genau wie Josephine an sieben Tagen der Woche. Sie ächzte, kippte den Stuhl zurück und ließ Kopf und Arme baumeln. Der Geruch nach Staub, Schweißfuß, Kopiergeräteabluft und Druckerschwärze gemahnte die Bibliotheksnutzer an Stille. Man äußerte Lebenszeichen ökonomisch und schlich auf leisen Sohlen durch die Tischreihen. Ein Sesselrücken oder Schnäuzen zog unweigerlich die Blicke auf sich. Dienstagnachmittag in der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg an der Bockenheimer Landstraße in Frankfurt am Main.
Gernot genoss das Sattfuttern bei Muttern. Er schlug die Sofakissen auf und dämmerte dem nächsten Nickerchen entgegen. Nur Stoffwechsel und Nikotinsucht vereitelten den angestrebten Sechsunddreißigstunden- power nap . Er lag in Pyjamahose und T-Shirt auf der Couch im Wohnzimmer des elterlichen Ferienhauses in Rust am Neusiedlersee im Burgenland. Er suhlte sich in dem Wohlsein, am frühen Nachmittag weder rasiert noch geduscht zu haben. Die Uniform hing gereinigt und geglättet im Bügelzimmer auf dem Kleiderhaken. Die Sonne schien zu den Fenstern herein, und kein unangemeldeter Rapport oder sonst eine Schikane warfen ihre Schatten voraus. Morgen war der Urlaub zu Ende, heute stand Nichtstun auf dem Programm.
Josephine zog die Glastür auf und trat vor das schuhschachtelähnliche Vorgebäude der Zentralbibliothek. An den Entlüftungsschächten der U-Bahnstation drängten sich Obdachlose in die warme Abluft. Studenten hockten auf den Begrenzungsmäuerchen der Grünanlagen wie Schwalben auf den Stromleitungen in der Ruster Bucht. Die jungen Leute drehten sich Zigaretten, plauderten oder nippten lesend an Getränkeautomatenbechern. Josephine blinzelte in die Wolken hinauf. Sie bekam einen Schwall Instantkaffee und Tabak in die Nase, rubbelte sich die Nase und schaute die Straße entlang zur Bockenheimer Warte. Die Blechlawine rollte vor dem mittelalterlichen Wehrturm mit der Fachwerkkrone vorbei. Gernot, dem Kindskopf, hätte das Rundtürmchen gefallen. Er war immer ein großer Burgenfan gewesen. Josephine schloss die Augen und hielt ihr Gesicht der Sonne entgegen.
Szombathy schlüpfte in die Gartenschlapfen und rückte sich den Liegestuhl zurecht. Er machte es sich unter den Arkaden im Hof gemütlich. Die roten Ziegel der Bodenverfliesung gaben gespeicherte Sonnenwärme ab. Getrocknete Maiskolben und Holzräder hingen an den kalkweißen Mauern. Bienen schwirrten um die Ranken der Weinlaube, und die Katze huschte zwischen die Ribisel und Johannisbeeren. Gernot zündete sich eine Zigarette an und blies die Rauchwölkchen gen Himmel. Er legte Zigarettenpackung und Mobiltelefon neben sich auf den Boden und genoss die Stille. Die Herbstsonne wärmte die Haut, und die Vogelstimmen im Blätterrauschen das Gemüt. Bald plärrte man ihm wieder »Tagwache!« ins Ohr.
Josephine schaute zur anderen Straßenseite hinüber. An dem U-Bahnabgang, der aussah wie ein in den Asphalt gerammter Eisenbahnwaggon, versammelten sich Leute. Josephine kniff die Augen zusammen. Sie wollte verstehen, was dort drüben die Aufmerksamkeit auf sich zog. Die schwere Glastür in ihrem Rücken flog auf. Ein Mädchen stürzte aus der Bibliothek, schob sich an Josephine vorbei und starrte entgeistert auf das Handydisplay. »He!« Josephine hielt das Mädchen zurück. »Was ist denn los?« Die andere Studentin schaute Josephine mit großen Augen an. »Eine Bombe im World Trade Center !«, japste sie, warf sich den Taschenriemen über die Schulter und eilte davon. Josephine schüttelte den Kopf. So viel Bohei um eine Bombendrohung im nördlichsten Zipfel von Frankfurt? Wen um alles in der Welt kümmerte eine Wirtschaftlich-Technische Cooperation GmbH & Co KG in Heddernheim? Josephine machte einen schiefen Mund und balancierte einen Fuß auf dem Absatz ihres
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