Macht: Thriller (German Edition)
Schnürstiefels. Oder ging es um das WTC am Flughafen? Sie stöhnte und trat einen Plastikbecher in die Büsche. Schnuppe! Die Heimfahrt mit der VGF konnte in jedem Fall wieder toll werden! Wegen der Polizeiaktion fuhren bestimmt weder U-Bahnen noch Straßenbahnen. Josephine schlurfte zu Derrida zurück.
Gernot blinzelte, verscheuchte eine Fliege von seinem Mundwinkel und hatte einen trockenen Rachen. Also sprach Zarathustra von Richard Strauss löcherte als polyphoner Klingelton das Trommelfell. Die Smart war am Aschenbecherrand zu Asche verglüht. Gernot grapschte nach dem Handy und hob es an sein Ohr. »Ja, bitte?« Er schüttelte die Ersatzzigarette aus dem Päckchen und streckte die Beine aus.
»Hast du es schon gehört? Es kommt gerade in den Nachrichten!« Gabriel klang sehr aufgeregt, er hyperventilierte beinahe.
»Nein. Was’n los?« Gernot fuhr sich über die Stirn und massierte die Nasenwurzel.
»Amerika wird angegriffen!«, sagte Gabriel.
»Ja, klar«, antwortete Gernot. »Das ist nicht witzig! Du warst auch schon mal besser.« Er zündete die Zigarette an und schnaubte abschätzig.
»Das ist kein Scherz! Mach den Fernseher an! Das World Trade Center in New York brennt.« In Gabriels Stimme glomm kein Fünkchen Scherz oder Ironie. »Eine aus Boston gestartete Boeing 767 ist in den Nordturm des World Trade Centers gekracht. Um dreiviertel drei, das heißt um 8:45 Uhr Ortszeit.«
Gernot sah auf die Uhr. Es war kurz vor drei. Die Nachricht war noch keine Viertelstunde alt. »Danke dir! Ich muss los!« Szombathy legte auf, sprang aus dem Liegestuhl und stolperte ins Haus. Er wühlte die Fernbedienung unter Magazinen und Lustigen Taschenbüchern hervor und drückte den Einschaltknopf. Auf dem Fernsehbildschirm erschien die New Yorker Skyline. Aus dem linken der zwei Türme im Zentrum stieg eine Rauchsäule auf. Dicker Qualm quoll aus den Fenstern und umhüllte die Dachantenne. Gernot fasste sich an die Magengrube und marschierte auf und ab. Er wischte sich über den Mund und linste zu der Uniform im anderen Zimmer hinüber. Die Gedankenflut wurde jäh unterbrochen. Der Live-Kommentar der Berichterstattung wurde laut. Die Stimmen aus dem Fernseher schrien durcheinander. Ein zweites Flugzeug drängte von rechts in das Fernsehbild der qualmenden Turmspitze. Die Boeing 767 tauchte aus heiterem Himmel hinter den Türmen auf. Szombathy starrte gebannt auf die Sonnenreflexionen auf dem Flugzeugrumpf. Der Pilot flog eine Kurve wie aus dem Lehrbuch. Im nächsten Augenblick, um 9:03 Uhr New Yorker Ortszeit, schlug die Maschine in den Südturm des WTC ein. Die Digitalanzeige auf dem VHS-Rekorder der Szombathys zeigte 15:03. Gernot sprang vom Sofa hoch. Er fuhr sich mit beiden Händen durch den frischausrasierten Haarschnitt. Jetzt konnte niemand mehr von einem Unfall sprechen.
Josephine entschied sich gegen den unterirdischen Durchgang vom Lesesaal zur U-Bahn. Dort unten strömten die Penner auf die Bibliothekstoiletten, und es stank. Sie brauchte jetzt aber frische Luft. Josephine trat aus der Zentralbibliothek, schwer beladen wie nach jedem ihrer Aufenthalte. Bücher wogen ihrer Erfahrung nach am schwersten von allem, was man tagein tagaus mit sich herumschleppen konnte. Geldsorgen, verletzte Gefühle und Bleibarren außen vor gelassen. Josephine überquerte die Straße. Sie zog die Rucksackgurte enger und strebte der U-Bahnstation an der Bockenheimer Warte zu. Sie registrierte aus den Augenwinkeln, dass es seltsam still vor dem Studentenwerk zuging. Der Büchermarkt zwischen den Säulen war geschlossen. Im Durchgang zur Jügelstraße standen keine Verkaufstische. Der Platz um das Wasserbecken auf dem Campusgelände war leer. Auch die Sessel und Tische der Gastgärten zwischen den Kaffeehäusern und Kiosken an der Bockenheimer Warte waren nur spärlich besetzt. Zu viele Eindrücke passten nicht ins gewohnte Bild, entscheidende Details wichen vom Üblichen ab. Josephine empfand den Augenblick, als ob sie das Glas zum Mund führte, Wasser erwartete, aber Zitrone schmeckte. Sie blieb vor der Imbissbude am Abgang zu U4 und U5 stehen. Der Kebabspieß drehte sich unbeaufsichtigt vor der Elektroglut. Budenwirte und Gäste drängten sich um das Transistorradio auf dem Regal zwischen den Gläsern, direkt unter dem Bismillahirrahmanirrahim und dem Bild der Kaaba in Mekka. »Amerika wird mit dem heutigen Tag nie mehr dasselbe sein«, krächzte der Lautsprecher. Josephine begriff, dass die Lage ernst war. Sie
Weitere Kostenlose Bücher