Macht: Thriller (German Edition)
verschränkte die Arme und sah sich mit anderen Augen um. Die Mienen im Dönerladen sprachen Bände. Etwas Gravierendes war geschehen. Aber was? Hatte jemand George W. Bush ermordet? War heute ein weiterer US-Präsident einem Attentat zum Opfer gefallen? Josephine beschloss, eine Zeitung zu kaufen.
Rósza Szombathy knetete das feuchte Taschentuch. Sie hatte die Szenen jetzt schon so oft gesehen. Die brennenden Hochhäuser, die Rauchschwaden, die verzweifelten Menschen, die Flugzeuge, die Einschläge. Die Bilder wurden immer und immer wieder wiederholt. Eine Boeing 757 stürzte in Washington DC ins Pentagon. Das Pentagon, das Weiße Haus, weitere Ministerien und das Capitol wurden evakuiert. Der Präsident in der Air Force One auf der Flucht. Das wirkte alles so irreal. Rósza hatte zuerst gedacht, Gernot hätte ihr einen Hollywoodfilm gezeigt. Oder den Trailer für einen von den Katastrophenstreifen, die gerade so »in« waren. Eine Apokalypse jagte die nächste in diesen Streifen. Meteoriten stürzten vom Himmel, Außerirdische verwüsteten die Erde, Computer richteten sich gegen ihre Schöpfer, und so weiter. Blockbusterkino nannte man das. Aber diese Bilder, das waren keine Filmszenen, das stand in keinem Drehbuch. Das waren Live-Nachrichten. Rósza schnäuzte sich. »Die wollten das ja nicht anders!«, resümierte sie bitter. »Die haben es heraufbeschworen, das Unglück. Geradezu herbeigebetet haben sie es mit ihren dummen Filmen!« Die Dusche rauschte. Aus dem Badezimmer kam keine Antwort. Rósza zog das letzte Taschentuch aus dem Karton und stopfte die benutzten in die leere Verpackung. Das hatte der Junge jetzt davon, dass er sich aus Liebeskummer und nur um sie zu ärgern beim Bundesheer verpflichtet hatte. Rósza beäugte ängstlich das Telefon. Sie erwartete jeden Moment den Anruf, der Gernot in die Kaserne befahl. Das TV-Gerät heischte nach Aufmerksamkeit, es hatte sich etwas getan, das Nachrichtenstudio war einem Livebild gewichen. Rósza reagierte zunächst halbherzig, die Sorge um ihren Sohn trübte das Bild. Sie schrie auf, als sie genauer hinsah. Der Südturm des World Trade Centers stürzte in sich zusammen. Die Staublawine raste durch Manhattan. Es war 10:05 Uhr in New York City, 16:05 Uhr in Rust im Burgenland.
In Frankfurt am Main schallte ein Aufschrei durch die Menschentrauben vor den Fernsehgeräten. Josephine presste sich tiefer in den Kiosk und traute ihren Augen nicht. Zwanzig Minuten nach dem ersten Turm stürzte der zweite ein. Die Stockwerke vom Südturm des World Trade Centers schoben sich ineinander und sackten zu Boden wie ein gesprengter Fabrikschlot. Rauch, Staub und Schutt verdunkelten den Himmel. »Waren da Menschen drin?«, fragte Josephine den Mann neben ihr. Der Dicke nickte. »Sie haben die Leute gezeigt, die aus den Fenstern gesprungen sind. Kleine schwarze Punkte …«, nuschelte er kreidebleich und verließ den Zeitschriftenladen.
Am nächsten Morgen blätterte Josephine im Studentenwohnheim durch das Feuilleton der Süddeutschen . Der Rauch über der Skyline von New York beherrschte die Kopfzeile jeder einzelnen Seite. »Krieg«, murmelte Josephine. »Das gibt Krieg.« Sie setzte sich auf das Bett und reiste im Geist fünf Jahre zurück. Sie erinnerte sich an das Zusammentreffen mit Daphne Blum an der Universität Berkeley in San Francisco. Die Amerikanerin hatte damals von ihr wissen wollen, ob man nach der deutschen Wiedervereinigung in Österreich Angst hätte. Furcht, dass ein weiterer Weltkrieg von Deutschland ausgehen könnte. »Nein«, hatte Josephine Daphne erwidert, »Ich glaube, der nächste Krieg wird von den USA ausgehen.« Die Blum war sichtlich verstört gewesen. Josephine hatte wohl Recht gehabt. Gestern Nachmittag war in Washington und New York der Notstand ausgerufen worden. Der dreiundvierzigste Präsident der Vereinigten Staaten, George W. Bush, hatte dem Terrorismus den Krieg erklärt.
Gernot Szombathy fuhr frühmorgens mit dem Zug zum Jagdkommando in die Maximilian-Kaserne nach Wiener Neustadt. Die ganze Fahrt hatte er kein Auge zugemacht. Seit dem Terroranschlag wusste er nicht mehr, was er mehr fürchten musste, die Angst vor dem Krieg, oder den Wunsch nach dem Krieg. Die Verlockung war groß, sich nach dem reinigenden Weltenbrand zu sehnen. Nach dem Aus für Profitgier, Konsumgeilheit und Korruption. Bestimmt träumten sich gerade noch mehr Einzelne in das rote Cape der Morgenröte, und unter Umständen erwachten sie alle zusammen feldgrau im
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