Macht: Thriller (German Edition)
die enge Kurve auf das Kirchengelände. Der Frühverkehr auf dem Verkehrsknotenpunkt erstarrte augenblicklich. Kommandofahrzeug und schweres Gerät donnerten ohne anzuhalten über die Busspur und die beiden Gegenverkehrsstreifen auf das Kirchengelände, das nach Süden und Osten von mehrstöckigen Wohnblöcken umgeben war. Der rot-weiße Geländewagen kam als erster auf dem Parkplatz zum Stehen. Bereitschaftsoffizier und Zugkommandant sprangen aus dem Mercedes Benz G 300 DT. Und der Einsatzleiter brüllte bereits Kommandos in sein Sprechfunkgerät. Im nächsten Augenblick rückten die beiden bulligen Fahrzeuge mit dem schweren Gerät auf den hohen Gusseisenzaun vor. In wenigen Sekunden hatten die Uniformierten eine Schlauchleitung vom Rüstlöschfahrzeug zu den Hydranten an der Straßenkreuzung gelegt. Der Einsatz lief ab wie ein Uhrwerk. Jeder wusste, was er oder sie zu tun hatte und was von ihnen erwartet wurde. Feuerwehrleute sprangen aus den LKWs, brachen die Tore auf und machten sich bereit, den Brandort in ihren Schutzanzügen zu stürmen. Noch bevor das Feuer auf die benachbarte Tankstelle an der Triesterstraße übergreifen konnte, brauchten sie das »Brand aus!«
Josephine kroch auf dem Bauch aus ihrer Deckung hervor und spähte vorsichtig zurück. Die zwei Männer waren verschwunden. Aber noch glaubte sie nicht daran, dass es überstanden war. Sie schlüpfte wieder zurück, lehnte sich schwer atmend an den Grabstein in ihrem Rücken und lauschte. Weitere Martinshörner in anderer Tonlage. Die Polizei war da. Endlich. Wenn den beiden Killern ihr Leben lieb war, suchten sie jetzt das Weite.
Mahler nahm Lilly in den Arm und versuchte sich zu orientieren. In einiger Entfernung überragte ein schlanker Grabstein alle anderen in seiner Gruppe. Seiner Form nach war er älter als die niederen. Das Monument war kein einfaches Rechteck, sondern es hatte einen dreieckigen Giebel obenauf wie ein antiker Altar oder ein römischer Tempel. Josephine kniff ungläubig die Augen zusammen. Der Stein schien grünlich zu schimmern. Sie hielt Lilly an der Hand, sah sich nach allen Seiten um und schlich vorsichtig auf das seltsame Grab zu. Je näher die beiden kamen, umso deutlicher wurde das irisierende Flimmern.
Vorsichtig ließ Josephine ihre Fingerspitzen über die Steinplatte zwischen den beiden Pilastern wandern. Die Oberfläche war makellos glatt poliert, sodass sie sich anfühlte wie Glas. Aus der Nähe betrachtet erschien die Struktur des Gesteins wie eine Vielzahl bunt bedampfter Spiegelscherben in Kunstharz gegossen. Das auftreffende Licht wurde von den eingeschlossenen Flächen als blau-grün-violettes Funkeln reflektiert. Josephine drehte sich kurz nach dem Brand um. Es musste sich bei diesem Block wohl um einen besonders großen Labradoriten handeln: eine Mineralmischung, die man früher auch als Spektrolithen gekannt hatte und die, wie der Name schon ausdrückte, von der Halbinsel Labrador stammte. Aber dass man dieses Gestein auch für Grabdenkmäler verwendet hätte, hatte sie noch nie zuvor gehört. An wen sollte dieses außergewöhnliche Mahnmal erinnern?
»Otto Weininger«, las Josephine. Nie gehört. Sie schüttelte enttäuscht den Kopf. Unter dem Namen stand etwas kleiner: »Doctor der Philosophie. Geboren 3. April 1880. Gestorben 4. October 1903 in Wien.« Sie war irritiert, ausgerechnet dasselbe Sterbedatum wie Gabriel Fuchs, nur hundertsieben Jahre früher. Da entdeckte sie die zehnzeilige Inschrift, die den Großteil der Tafel für sich beanspruchte: »Dieser Stein schliesst die Ruhestätte eines Jünglings, dessen Geist hiernieden nimmer Ruhe fand. Und als er die Offenbarungen desselben und die seiner Seele kundgegeben hatte, litt es ihn nicht mehr unter den Lebenden. Er suchte den Todesbezirk eines Allergrössten im Wiener Schwarzspanierhause und vernichtete dort seine Leiblichkeit.« Mahler lief ein eiskalter Schauder über den Rücken.
Es war ein Irrtum, dass sie noch niemals von diesem Jüngling, seinem Selbstmord und diesem Grabstein gehört hatte, durchzuckte es Josephine. Vielleicht war ihre Fehleinschätzung ein tödlicher Fehler. Es war Gabriel gewesen, der ihr vor Wochen von Otto Weininger geschrieben hatte, und der ihr dieses seltsame, funkelnde Mineral überhaupt nahe gebracht und erklärt hatte. Eben weil er diesen Grabstein auf seinem Friedhof stehen hatte. Und da war auch noch etwas anderes. Mahler erinnerte sich schlagartig ganz genau. Wie um alles in der Welt hatte sie das
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