Macht: Thriller (German Edition)
vergessen können?
Josephine fiel auf die Knie und begann, die trockenen Efeuranken vor dem Sockel des Grabsteins zu durchwühlen. Sie stach sich an dünnen Ästen, zerrieb trockenes Laub zwischen den Fingern und fasste in körnige Graberde. Endlich spürte sie etwas Rechteckiges zwischen ihren Fingerspitzen. Sie zog es unter den Pflanzen hervor und hielt es ins Licht. Es war eine schwarze Schmuckschachtel aus Kunststoff. Es befand sich keine Prägung eines Juweliers auf dem Deckel, aber sie war kaum von der Witterung angegriffen. Das Kleinod musste also erst vor kurzem hier abgelegt worden sein. Es stimmte tatsächlich.
Nervös klappte sie den Deckel auf, begierig, so ein Schmuckstück endlich mit eigenen Augen zu sehen. Aber der Schlitz im schwarzen Innenfutter war leer. Der Silberring mit Totenkopf und gekreuzten Knochen war nicht mehr da.
Josephine schloss die Faust um die leere Schachtel. Verdammt, sie war zu spät gekommen. Jemand hatte den Ring bereits entwendet. Warum hatte Gabriel nur so unnötig pietätvoll sein müssen, und das Ding bei dem Beschenkten gelassen? Dieser Weininger war schließlich seit über hundert Jahren tot!
Mahler ließ das Kästchen in ihre Manteltasche gleiten. Sie hielt sich die Hand vor die Augen, und Tränen rannen ihr über die Wangen. Unter ihren Füßen schien sich die Erde aufzutun. Wenn sie eher auf Gabriels Anfrage reagiert hätte, um welches Symbol es sich auf dem Silberreif handelte, hätte sie seinen und Sophies Tod verhindern können? Sie warnen können, vor gefährlichen Leuten, die nachts auf Friedhöfen herumschlichen und seltsame Riten praktizierten? Waren auf diesem Friedhof lediglich jugendliche Grabschänder am Werk, die den Kick suchten und Bikerringe auf das Grab ihres Idols legten, wie sie es zunächst angenommen hatte? Steckte doch mehr dahinter? Oder war das alles nur ein furchtbarer Zufall?
Lilly saß zusammengekauert auf der Grabeinfriedung und klapperte vor Kälte mit den Zähnen.
»O mein Gott«, stieß Josephine hervor und nahm das Mädchen zu sich unter den Mantel. »Du bist ja eiskalt. Komm, wir gehen jetzt zu den Polizisten und erzählen ihnen, was passiert ist.«
Während die beiden auf die Blaulichter zugingen, manifestierte sich ein eigenartiger Einfall in Josephines Kopf. Sie sah Lilly von der Seite an. Nichts. Keine einzige Regung auf ihrem engelsgleichen Gesicht. Mahler presste ihre Lippen aufeinander und starrte in den Himmel hinauf, auf dem langsam der Morgen graute.
Das Mädchen war in seiner Todesnacht an Gabriels Seite gewesen. Sie wusste als Einzige, was wirklich in der Nacht vom dritten auf den vierten Oktober im Büro des Pfarrhauses geschehen war. Was, fragte sich Mahler, was, wenn die Kleine doch ein Ziel gehabt hatte, als sie zusammen vor den beiden Killern geflohen waren. Was, wenn dieser Grabstein ihr Zufluchtsort geworden wäre? Sie ist immerhin direkt in seine Richtung gelaufen und ist dann ganz still auf dem Grab sitzen geblieben. Was würde es bedeuten, wenn überhaupt sie es gewesen war, die Gabriel erst zu dem Grab und somit logischerweise zu den Silberringen darauf geführt hatte?
9
D ie junge Polizistin, die Josephines Aussage aufnahm, wurde immer blasser unter ihrer dunkelblauen Uniformkappe. Ihr Kugelschreiber tanzte unaufhörlich über den Block, und nur gelegentlich ließ die junge Frau ein »Aha« oder »Hmmm« von sich hören. Schließlich erschien ein gefährliches Glitzern in ihren dunklen Pupillen, und sie fragte: »Und wo sind sie dann hin, die Mörder?« Es war kaum zu übersehen, dass es ihr bei dem Gedanken an die Brandstifter in der Dienstwaffe kribbelte.
Die Brandruine stank bestialisch. Hinter der Polizeiabsperrung tauchte ein Mann in Zivil auf. Er führte mit hochrotem Gesicht ein Telefonat mit seinem Handy, und die uniformierten Beamten ließen ihn grüßend passieren. Kurz bevor er bei Josephine und der Polizistin angekommen war, legte er auf und ging zielstrebig auf die beiden Frauen zu.
»Guten Morgen«, brummte der Mann um die vierzig, und der Schlaf klebte noch in seinen Augen. Er nahm der Beamtin den Notizblock aus der Hand und sagte: »Danke, Kollegin, Sie können gehen. Ich übernehme ab hier.« Er klappte ein schwarzes Lederetui auf und hielt Josephine seine Dienstmarke entgegen. Auf goldenem Strahlenkranz vor weißem Email schwarz der österreichische Bundesadler. Rot-weiß-rot umrandet die Schrift: »BUNDESPOLIZEI. KRIMINALDIENST.«
»Jawohl«, salutierte die Uniformierte und trat
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