Macht: Thriller (German Edition)
Otto Weininger aus Wien vorstellen?«
Weininger begrüßte die wachsende Gewissheit in den Augen seiner Nachbarn, bei seiner Behandlung einen Fehler gemacht zu haben. Er ergriff die Hand der amerikanischen Lady und machte einen Diener.
Ein schiefes Lächeln huschte über Katherine Tingleys Gesicht. Sie nickte gebieterisch und blieb stumm.
»Wir haben K.T. erst im nächsten Jahr erwartet, aber sie hat uns so glücklich wie unerwartet schon eher beehrt. Und mit ganz bemerkenswerten Gästen, Sie werden staunen.« Aus der Miene Paul Raatzs strahlte die Begeisterung eines Kindes vor der Weihnachtsbescherung. Offensichtlich war er der Frau aus Massachusetts komplett hörig.
Otto Weininger war so viel Untertänigkeit eines Mannes angesichts eines Weibes nicht geheuer.
»K.T., müssen Sie wissen, hat zur Jahrhundertwende das Hauptquartier unserer Organisation von der Ostküste der Vereinigten Staaten in New York an die Westküste nach Point Loma verlegt, wo sie mit Lomaland ein ganz bemerkenswertes Projekt gegründet hat. Eine neue gemeinschaftliche Lebensform für das angebrochene Säkulum«, schwadronierte Raatz drauflos und redete sich in Rage. »Stellen sie sich vor, Doktor Weininger, Knaben und Mädchen leben zusammen in Internaten und werden gemeinsam an der Raja-Yoga-Schule unterrichtet. Die Begabtesten von ihnen werden am Isis-Konservatorium in den Künsten unterwiesen und erfreuen in einem eigens dafür errichteten Amphitheater ein begeistertes Publikum mit antiken Dramen, Shakespeare und Konzerten. In Bälde, verspricht K.T., will man mit den jungen Leuten auf Tournee durch die Vereinigten Staaten gehen. Und wer weiß, vielleicht beehrt man schon bald auch die alte Welt.«
Nein, das wollte sich Weininger nicht vorstellen. Die Anwesenheit dieser Frau, die ihn mit ihren Blicken sezierte, wurde ihm zunehmend unangenehmer. Durchschaute sie ihn? Ahnte sie mit ihrem tierischen Instinkt, dass er für ihre Koketterie verloren war und noch zwei, drei andere Leben führte, die nicht einmal Artur Gerber kannte?
»Ja, ja, bemerkenswert«, krächzte Weininger und lockerte seinen Kragen. »Das klingt wie ein modernes Utopia.« Und es ist im selben Maße unrealistisch wie verderblich, ergänzte er im Geist.
Tingley wandte sich ab und gebot Raatz mit einer Kopfbewegung im Programm fortzufahren.
Weininger registrierte, dass sich die Damen und Herren um ihn herum entspannten. Sie versicherten sich mit einem Glitzern der Augen, dass sie sich nicht fehlverhalten hatten. Der Akademiker aus Österreich-Ungarn war nichts Besonderes. Noch nicht.
»Ja, selbstverständlich, Sie haben Recht K.T., es ist an der Zeit, mit dem Ritual zu beginnen.« Raatz klatschte in die Hände. Die Konversation kam augenblicklich zum Erliegen. »Edle Damen und geschätzte Herren, es ist an der Zeit, jetzt ihre Plätze einzunehmen. Wenn ich sie alle zu diesem Zwecke weiterbitten dürfte.« Raatz machte eine ausladende Armbewegung.
Dienstboten waren sogleich zur Stelle und öffneten die Flügeltüren zu einem weiteren Salon, in dessen Mitte eine Tafelrunde stand. Um den Tisch und in Reihen dahinter standen genug Stühle bereit, um allen Geladenen einen Platz in der Runde zu gewährleisten. Die Hausmädchen zogen die Vorhänge zu und entzündeten die Kerzenleuchter und Kandelaber. Das Murmeln und Stuhlrücken verebbte. Zu Anfang störte hie und da noch ein nervöses Hüsteln die Stille, aber schon bald war es ganz ruhig. So ruhig, dass man im Halbdunkel das Zischen der Kerzendochte vernehmen konnte.
Raatz führte das Medium herein, Margery, die vierzehnjährige Geisterbeschwörerin aus Ontario. Weininger erkannte schon bei ihrem Auftritt, dass sie lüstern und gefallsüchtig war. Dass sie sofort in Aktion trat, sobald jemand sie weniger zu beachten schien. Dass sie den, der ihr naiv den Hof machte und sie offensichtlich bewunderte, stehen ließ, ja dass sie die Prostituierte ganz in sich hatte. Das Gefühl, sie lieben zu können, kannte er leider auch sehr genau.
Margery trug nichts als einen Seidenkimono auf ihren knospenden Brüsten. Ihre Haut schimmerte makellos und pfirsichsamtig im Kerzenlicht. Ihr Blick wanderte über die geschwellten Vorhemden der versammelten Herren. Sie suchte den Flirt, das Opfer, das die Sirene bezirzen konnte.
Weininger wandte sich ab, zog an der Kette zu seiner Westentasche und sah auf die Uhr. Es war acht Uhr abends. Die Stunde der Versammlungen.
Die Dienstboten stellten Streichinstrumente auf. Zwei Männer, die seit
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