Macht: Thriller (German Edition)
platzte es aus ihr heraus: »Das ist nicht Gabriels Schrift! Noch nicht einmal die Schrift eines Erwachsenen, es ist eine Kinderschrift. Die Ziffern sehen aus wie die Handschrift eines Schulkindes.«
»Lilly«, bestätigte Gernot und zog an der Zigarette.
»Ich fürchte, ja.« Josephine wurde mulmig bei dem Gedanken. Dass Gabriels Tochter die Zeilen geschrieben hatte, wusste sie instinktiv schon seit gestern. Aber dass die kleine unschuldige Lilly die Autorin des Codes gewesen ist, wollte sie nicht wahrhaben. Und jetzt hatte Gernot ihren Verdacht bestätigt, anstatt ihn zu zerstreuen. »Die Zahlen ergeben auf den ersten Blick überhaupt keinen Sinn«, erklärte sie in ihrem Hörsaalton und hörte sich selbst reden. »Was wir hier haben sind 88 Dreierkombinationen. Ich denke für 87 Buchstaben, wenn man das offensichtliche Datum in amerikanischer Schreibweise am Anfang, den 4. Oktober 1903, abzieht. Vor dem Datum steht ein Kreuz. Ein Todesdatum? Und eine, ohne den Inhalt der Botschaft zu kennen, bezuglose dreistellige Zahl ist im Text verborgen. 322.«
»Aha!« Gernot schlug die Beine übereinander und zuckte mit den Achseln. »Ich checke grade überhaupt nichts. Aber sprich bitte weiter!«
»Es ist ein Buchcode.« Josephine klopfte mit dem Fingerknöchel auf die Nachricht, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. »Ein Buchcode ist so ziemlich die sicherste Methode, eine Nachricht zu verschlüsseln, die es gibt. Von Dritten nicht zu knacken. Die drei Zahlen einer Gruppe beziffern die Seite, die Zeile und die Position des Buchstabens. Dechiffrieren und lesen kann die Botschaft nur, wer weiß, um welchen Buchtitel es sich handelt, und wer den Titel in derselben Auflage wie der Autor des Codes besitzt. Sackgasse!«
»Nicht ganz. Lilly kennt das Buch, das Gabriel verwendet hat.«
»Hmmm.« Josephine trommelte mit den Fingernägeln auf den Couchtisch. »Da passt etwas nicht zusammen. Gabriel wollte, dass wir die Nachricht bekommen. Das heißt, dass er davon ausgegangen ist, dass wir sie lesen können. Oder irre ich mich?«
»Nein.« Gernot schüttelte den Kopf und zog die Brauen zusammen.
»Versuch dich zu erinnern.« Josephine beugte sich zu Gernot hinüber. »Hat Gabriel dir und jemand anderem vom Loser’s Club vor kurzem ein besonderes Buch geschenkt? Eines, von dem er selbst eine Ausgabe im Regal hatte. Eines, das ihm besonders gut gefallen hat? Eine Jubiläumsausgabe? Eine besondere Bibel? Vielleicht von einem Künstler gestaltet, den Gabriel sehr geschätzt hat? Die Hundertwasser-Bibel?« Josephine sah nirgends in der Wohnung auch nur ein einziges Buch und verlor jede Hoffnung. »Ich weiß es ja nicht! Irgendetwas in der Art? Möglicherweise ein Buch, mit dem dir Gabriel mit seiner Begeisterung auf den Wecker gegangen ist? Ja, auf den Wecker gehen musste!«
»Scheiße!« Gernot schnellte aus dem Ledersessel und holte sein Telefon aus dem Vorzimmer. »Du bist gut, du gehörst in die Suppe!«, rief er und tippte auf dem iPhone herum. »Es hat so ein Ding gegeben. Ich weiß nur nicht mehr genau, was es gewesen ist.« Er hielt das Smartphone an sein Ohr. »Udo? Servus! Du, ich hab eine Frage an dich.« Gernot verstummte und verdrehte die Augen. »Ja, Udo, das ist fein. Es ist schön für dich, dass du dich freust, dass grade ich dich anrufe. – Ja. Ja. Ja. – Gemeinsam chillen und schlechte Energien abbauen. Super! – Nein, ich bin dir nicht böse. – Udo, lass jetzt den Aschram-Scheiß und hör mir zu! Gabriel hat uns beiden zu Ostern dieses Buch geschenkt. Das, von dem er so happy gewesen ist, dass wir drei jetzt dieselbe Auflage haben.« Gernot lachte auf und schlug sich auf den Oberschenkel. »Genau! Perfekt. Danke! Brings mit, wenn du heute Abend zu mir kommst. Bis dann!« Er legte auf und wandte sich Josephine zu. »Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Braumüller Verlag. Zwölfte unveränderte Auflage. Wien und Leipzig 1910.«
»Und daran hat er sich einfach so erinnert?« Josephine runzelte die Stirn und kratzte sich am Kinn.
»Völlig wurscht! Das ist unser Buch!« Gernot klatschte in die Hände.
»Otto Weininger«, flüsterte Josephine. Schon wieder dieser antisemitische und frauenfeindliche Irre. Sie griff nach Gabriels Nachricht und betrachtete das Datum am Beginn. In ihrem Kopf manifestierte sich die Grabinschrift an dem Labradoriten auf dem Matzleinsdorfer Friedhof. »Mensch, logo! Das ist der Schlüssel! Der 4. Oktober 1903 ist das Sterbedatum von diesem
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