Macht: Thriller (German Edition)
Weininger. An dem Tag hat er sich in Ludwig van Beethovens Sterbewohnung das Leben genommen.« Josephine erstarrte und ihr wurde eiskalt. Sie hielt sich den Mund zu und sah Gernot an. »Mit einem Schuss in die Brust!«
19
Nürnberg, 5. August 1902
D er junge Doktor der Philosophie aus Wien sprang Ecke Praterstraße und Obere Turnstraße von der Straßenbahn ab. Die einsetzende Abenddämmerung milderte die Sommerhitze. Die Erfrischung von dem Klima im vollbesetzten Wagen war auch bitter notwendig, zu viele Männer und Frauen drückten sich in der Enge zusammen und kokettierten schamlos miteinander. Der Jüngling mit dem flaumigen Oberlippenbart schüttelte sich und rückte seine Drahtbrille zurecht. Die Spaziergänger auf dem Weg in die Parkanlagen des Praters am Splittergraben hielten inne. Der Triebwagen mit dem Stromabnehmer auf dem Dach, der ohne Gespann oder Schlot über die Schienen rollte, war für viele ein Mirakel. In den verglasten Plattformen vorne und hinten standen Uniformierte. Die zwei Männer lenkten und bremsten das Gefährt mit Zauberhand. Buben zeigten mit Fingern auf Straßenbahn und Kabel und erklärten ihren Kinderfrauen, wie das Wunder funktionierte.
Den Herrn Doktor begeisterte die Modernisierung nicht. Vor fünf Monaten, im April, hatte er seinen dreiundzwanzigsten Geburtstag gefeiert, und die Wiener Tramway-Gesellschaft fuhr schon seit neunzehn Jahren elektrisch. Für den jungen Mann war es seit Kindesbeinen das Natürlichste der Welt, mit der Elektrischen in den Wiener Prater zu fahren. Aber in der früheren Freien Reichsstadt Nürnberg verdrängte der Strom die Pferde- und Dampfbahnen erst seit heuer. Der Elektrifizierung gehörte die Zukunft. Otto Weininger bewegten ganz andere Gedanken.
Ein Stubenmädchen nahm Weininger im Vorzimmer seines Gastgebers in Empfang. Weininger übergab dem Mädel seine Visitenkarte und vertraute ihr das Paket an, das er schon den halben Tag mit sich herumtrug. Dem Mobiliar nach zu schließen eignete sich die Salami leider nicht als Gastgeschenk. Weininger wies das Mädchen an, die Wurst bis zu seinem Abschied aufzubewahren. Die Kleine, fast noch ein Kind, schnupperte an dem Paket und kicherte. Sie versprach, die Salami solange in der Küche kühl zu halten. Eine peinliche Situation. Sein Freund Artur Gerber hatte ihm die Hartwurst als Reiseproviant per Post geschickt, bestimmt hatte er es gut gemeint, aber in dieser Gesellschaft kam sich Weininger damit kleinbürgerlich, albern und deplatziert vor. Vielleicht würde er nach dem Parsifal in Bayreuth, der nächsten Station seiner Pilgerreise, dazukommen, sie zu essen.
Das Stubenmädchen machte einen Knicks und geleitete Weininger in den Salon.
Die Wohnung in der Oberen Turngasse 3 war erfüllt vom Klang eines Englisch, das so anders tönte als das Britische, das Weininger im Gymnasium und an der Universität gelernt hatte. Er hatte in Konversation immer ausgezeichnete Zensuren gehabt, aber von dem Geredeten verstand er zunächst kein Wort. Die Mehrzahl der anderen Gäste waren zweifelsohne Amerikaner. Mit etwas Glück konnte er sich mit jemand auf Französisch oder Italienisch unterhalten.
Weininger rettete sich auf eine deutsche Sprachinsel und nippte an seinem Glas. Gelegentlich quittierte er ein Bonmot mit einem dünnen Lächeln. Die Leute redeten, ohne ein Wort zu sagen. Unterdessen füllte sich der Raum mit Menschen fremder Zunge, und Weininger fühlte sich unter den Franken nicht mehr auf einem rettenden Eiland, sondern auf dem Floß der Medusa.
Endlich ein bekanntes Gesicht, das einzige ringsum. Paul Raatz komplimentierte sich durch seine Gäste auf Weininger zu. Er schüttelte dem Wiener euphorisch die Hand. »Doktor Weininger! Ich freue mich sehr, sie in meiner bescheidenen Bleibe und seit März dieses Jahres auch der Adresse der Theosophischen Gesellschaft Point Loma begrüßen zu dürfen!«
»Danke. Danke. Das ist sehr freundlich von Ihnen.« Weininger genoss die herzliche Begrüßung durch den Gastgeber und die Blicke der Umstehenden, die gerade abwogen, ob sie es seiner bescheidenen Person gegenüber an Respekt hatten mangeln lassen.
»Darf ich Ihnen die Gründerin unserer Gesellschaft und Präsidentin der Universal Brotherhood and Theosophical Society vorstellen, Mrs. Katherine Tingley!« Raatz präsentierte eine Dame Mitte Fünfzig. Sie wirkte eher gedrungen, hatte ein breites und doch würdevolles Gesicht unter einem üppigen kastanienbraunen Haarknoten. »K.T., darf ich Ihnen Doktor
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