Macht: Thriller (German Edition)
an sich. Es tat gut, sie endlich im Arm zu halten, ihr Haar zu riechen. Jetzt fühlte es sich so anders an als gestern auf dem Friedhof. Diesem verfluchten Friedhof mit all seinen Toten.
Josephine schmiegte sich an Gernots Brust. Sie hatte keine Ahnung, wie ihr geschah, aber es war ihr im Moment auch völlig egal. Sie musste sich eingestehen, seit Gabriels Tod völlig die Kontrolle über ihr Leben und ihre Gefühle verloren zu haben, sie trieb durch die Ereignisse wie ein Blatt auf der Strömung. Und Gernot war der Felsen in der Stromschnelle, an dem sie Halt fand. Hoffentlich zerbrach sie nicht an ihm.
»Sieh dir das an, Josi.« Gernot löste die Umarmung und wies auf eine Buchillustration. »Was siehst du da?«
Josephine machte einen Schritt zurück. Ein Totenkopf grinste sie an. Der Schädel schwebte über zwei gekreuzten Oberschenkelknochen. Unter dem Kreuzungspunkt der Knochen eine Zahl. Die 322. »Der Ring«, flüsterte Josephine.
»Der Ring!«, bestätigte Gernot und schlug das Buch zu.
23
P ogitsch war verblüfft. Der Goldschmied hatte schon vieles gesehen, aber das hier überstieg seine bisherigen Erfahrungen bei weitem. Der Säuretest bestätigte den ersten Augenschein, der zehneinhalb Kilo schwere Kessel bestand aus achtzehnkarätigem gewalztem Goldblech. Pogitsch legte Tupfer und Maßband zur Seite, hob den Topf mit 50 Zentimetern Durchmesser von der Waage und stellte ihn zwischen sich und seinen späten Besucher auf die Tischvitrine. Hatte er es vor einer Viertelstunde noch bereut, seine Frau alleine aufs Land geschickt zu haben, war er jetzt darüber sehr glücklich. Ausspannen und im Garten die Sinne baumeln lassen konnte er morgen immer noch, aber so eine Chance bot sich nur einmal im Leben.
»Was wissen Sie über das Stück?«, fragte Pogitsch und bewunderte die Treibarbeiten in den zehn Goldplatten des Kessels. Aus der Mitte von fünf Platten reichte jeweils ein keltischer Gott seinen Nachbarn die Hände zum Reigentanz. Die Götter blickten würdevoll gleichgültig aus der Kesselwand. Ihre Oberkörper und erhobenen Arme waren proportional kleiner als die Köpfe gearbeitet. Die Darstellung der Götterkörper reichte nur bis zur Hüfte, und um den Hals trugen die drei bärtigen und zwei bartlosen Männer einen massiven Schmuckring. Krieger, Vögel und Opfertiere bildeten den feierlichen Rahmen. Die Prozessionsszenen waren in kleinerem Maßstab ausgeführt als der Göttertanz, den sie umkreisten. Die Beleuchtung verlieh den Masken und Figuren Leben und Glanz. Die Komposition erinnerte Pogitsch an den Silberkessel von Gundestrup. Ohne Zweifel hatte der antike Kultkessel aus Jütland dem Hersteller dieses Stückes als Vorlage gedient.
Der elegante Herr vis-à-vis schob sich den Krawattenknopf mittig, kontrollierte seinen Scheitel und überbrückte so die Zeit seines Überlegens und Zauderns. »Zunächst noch einmal meinen herzlichen Dank, dass Sie mich so spät noch empfangen haben, Herr Pogitsch«, sagte er und betrachtete seine manikürten Fingernägel. »Die ganze Angelegenheit ist mir, wie soll ich sagen, ein wenig unangenehm. Ich bin froh, dass mich Ihr Berufskollege an Sie verwiesen hat. In Deutschland reagiert man auf gewisse Dinge weniger entspannt als bei Ihnen in Österreich. Ich würde gerne vermeiden, unangenehme Fragen des Verfassungsschutzes beantworten zu müssen, sollte ich das Stück zuhause in der Bundesrepublik restaurieren lassen. Sie verstehen das?«
Pogitsch nickte gönnerhaft und ziemlich erleichtert. Die unangenehme Pflicht war von seinen Schultern genommen, den Kunden darüber aufzuklären, kein Kunstwerk der vorrömisch-keltischen Latènezeit aus dem fünften bis ersten Jahrhundert vor Christus zu besitzen. Aus derartigen Enttäuschungen ergaben sich oft unschöne Szenen. »Machen Sie sich keine Sorgen, Diskretion ist mein Geschäft. Nichts anderes wird Ihnen mein Zunftbruder mitgeteilt haben. Andernfalls wären Sie wohl kaum mit dem Objekt zu mir gekommen. Sie können ganz beruhigt sein und offen über alles sprechen.«
»Gut«, freute sich das Gegenüber. »Wie Sie wahrscheinlich aus der Medienberichterstattung wissen, haben Hobbytaucher im Mai 2001 einen ganz ähnlichen Fund aus dem Uferschlamm des Chiemsees geborgen. Den Goldkessel vom Chiemsee, von der Journaille, allen voran vom Spiegel , auch › Hitlers Nachttopf ‹ betitelt.« Der Besucher machte ein angewidertes Gesicht und strich die Bügelfalte seiner Hose auf Linie. »Wie dem auch sei, die Entdecker,
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